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Gemeinschaftserlebnisse in unruhigen Zeiten

Der Jahrgang 2023. Brettspiele finden heute ein größeres Publikum als noch vor wenigen Jahren. Sie sind aber kein konkurrenzloses Gemeinschaftserlebnis. Sondern sie müssen sich gegen andere Freizeitaktivitäten und kulturelle Ereignisse durchsetzen, die wir im Familien- und Freundeskreis wahrnehmen. Die in den letzten zwölf Monaten erschienenen Spiele schaffen es problemlos, mit dieser Konkurrenz mitzuhalten: Denn es gibt eine Reihe von herausragenden Neuheiten.

Die nominierten und empfohlenen Spiele 2023 ➜

Christoph Schlewinski und Harald Schrapers präsentieren im Brettspielcafé „Playce“ die besten Spiele des Jahrgangs

Zirka 440 Neuerscheinungen haben die beiden Jurys – eine für Spiel und Kennerspiel, eine für das Kinderspiel – im Laufe des Jahres gespielt. Das sind ungefähr zehn Prozent mehr als noch im Vorjahr. Trotzdem ist die Zahl der Neuheiten im Kinderspielbereich spürbar geringer als in den Jahren vor der Pandemie. Auffällig ist, dass bei den aktuellen Neuerscheinungen ein althergebrachtes Genre dominiert: das Merkspiel, das uns an den Klassiker „Memory“ erinnert. Doch kaum denkt man sich, dass beim Merkspiel niemandem etwas Neues mehr einfällt, gibt es eine große Zahl an wirklich raffinierten Varianten. Allen voran „Gigamon“ konnte in den Spielerunden der Jurymitglieder die Kinder begeistern. Dennoch wäre es wünschenswert, dass in den kommenden Jahren wieder eine größere Vielfalt an Mechanismen aufgegriffen wird. Die Hoffnung ist da, dass sich das realisieren lässt, denn Autorinnen und Autoren können inzwischen wieder ohne Corona-Einschränkungen ihre Prototypen spielen und testen. Da die Entwicklung guter Spiele nicht im Jahresrhythmus geschieht, sondern weitaus länger dauert, wird dies erst zeitverzögert auf dem Markt ankommen. Auch an den Spielen für Erwachsene und ältere Kinder geht der „Memory“-Trend nicht spurlos vorbei. Die Spiel-des-Jahres-Empfehlung „That’s Not a Hat“ ist dabei für alle Gruppen gleichermaßen eine ganz besondere Merkspiel-Herausforderung.

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„Mysterium Kids“ gehört dem „Partyspiel“-Genre an, das bislang bei den Kinderspielen seltener in bemerkenswerter Qualität zu finden war. Für Erwachsene ist es hingegen etabliert. Es überrascht nicht, dass „Hitster“, für das ein kostenpflichtiger oder werbefinanzierter Spotify-Account notwendig ist, auf der Longlist zum Spiel des Jahres steht. „Fun Facts“ wurde sogar zum Spiel des Jahres nominiert. Es fällt auf, dass über das „Partyspiel“ hinaus einige Titel zu den herausragenden Neuerscheinungen gehören, die mit mehr als vier Personen spielbar sind. Besonders ungewöhnlich ist dies im Kennerspielbereich, wo es mit „Challengers“ sogar ein Turnierspiel gibt, das in großen Gruppen mit bis zu acht Mitspielenden besonders viel Spaß macht.

Spiel- und Kennerspieljury 2023: Stephan Kessler, Udo Bartsch, Maren Hoffmann, Manuel Fritsch, Tim Koch, Martina Fuchs, Bernhard Löhlein, Karsten Grosser, Julia Zerlik, Harald Schrapers (Vorsitzender) und Nico Wagner

Bei den Kinderspielen dominieren – neben einer österreichischen Autorin – die französischsprachigen Spieleautoren. Beim Spiel und Kennerspiel ist es hingegen gemischt: Ein Däne, Kasper Lapp, wird zweimal erwähnt. Ansonsten teilen sich die deutsch-, englisch- und französischsprachigen Autoren sowie ein Japaner die Plätze auf den Listen.

Kinderspieljury 2023: Volker Römke (Beirat), Oliver Gumbrich (Beirat), Christoph Schlewinski (Koordinator), Johanna France, Swetlana Zeiser (Beirätin), Stefan Gohlisch und Jessica Ferg (Beirätin).

Eine einzigartige Würdigung gibt es für „Unlock!“, die erzählstarken Rätselabenteuer, die auf einer Idee des französischen Autors Cyril Demaegd beruhen. Die ersten „Unlock!“-Fälle erschienen bereits 2017. Die Reihe ist an die „Escape“-Spiele angelehnt, ohne sich auf das Motiv der „Flucht“ zu beschränken. Die Qualität der „Unlock!“-Reihe ist über die Jahre stetig gewachsen. Der Sonderpreis geht nun an die aktuellen Fälle „Unlock! Game Adventures“ und „Unlock! Kids: Detektivgeschichten“ – diese kindgerechte Adaption konnte ganz besonders überzeugen. Deshalb wird der Sonderpreis in zweifacher Ausfertigung verliehen: in der Farbe Anthrazit für das Kennerspiel „Unlock“ und in erstmals auch in Blau für das Kinderspiel „Unlock! Kids“.

Abschalten und einen Moment alles um sich herum vergessen dürfen – das ist in unruhigen Zeiten noch wichtiger. Mit den „Unlock!“-Abenteuern kann man dies genauso wie mit den anderen 21 vom Verein Spiel des Jahres ausgewählten Titeln tun.

Welches der in den jeweiligen Kategorieren nominierten Spiele als Sieger gekürt wird, entscheiden die Jurymitglieder am Sonntag, 16. Juli, unmittelbar vor der großen Preisverleihung. Diese wird als Livestream auf Youtube und auf spiel-des-jahres.de aus Berlin übertragen.

Harald Schrapers · Christoph Schlewinski

Fotos: Spiel des Jahres CC BY-SA 4.0

Die nominierten und empfohlenen Spiele 2023

Die Nominierungslisten – Spiel des Jahres: „Dorfromantik“, „Fun Facts“, „Next Station London“. Kennerspiel: „Challengers“, „Iki“, „Planet Unknown“. Kinderspiel: „Carla Caramel“, „Gigamon“, „Mysterium Kids“. Sonderpreis: „Unlock! Game Adventures“, „Unlock! Kids – Detektivgeschichten“. Die Empfehlungslisten – Spiel des Jahres: „Akropolis“, „Hitster“, „Kuzooka“, „Mantis“, „QE“, „Sea Salt & Paper“, „That’s Not a Head“.

Jetzt bewerben für den Kinderspiel-Beirat

Die Arbeit der Spielekritiker:innen der Jury Kinderspiel des Jahres wird bereits seit Jahren durch beratende Personen unterstützt, die eine besondere Fachkompetenz für die Bewertung von Brettspielen einbringen und sich intensiv mit der Zielgruppe für das Kinderspiel des Jahres beschäftigten. Diese Beiratstätigkeit schreibt der Verein Spiel des Jahres auch für 2024 wieder öffentlich aus.

Angesprochen sind Ludothekar:innen, pädagogische Fachkräfte und Menschen, die in ihrem beruflichen Umfeld regelmäßig mit Kindern Gesellschaftsspiele spielen. Dies können Grundschullehrkräfte sein, die eine spielende Klasse oder eine Spiele-AG leiten. Erziehende, die eine spielende Gruppe in der Kita oder im Hort betreuen. Oder Beschäftigte aus Ludotheken, die Kindergruppen zum Spielen aufsuchen oder von diesen besucht werden. Wichtig ist generell, dass sie unabhängig von Spieleverlagen und dem Handel sind sowie in keiner Beziehung zu einem Spieleautor oder einer Spieleautorin stehen.

Die Jury Kinderspiel des Jahres zeichnet Gesellschaftsspiele aus, deren angegebenes Mindestalter ungefähr in der Spannweite „ab 4“ bis „ab 6“ liegt. Die Kernzielgruppe sind folglich Kindergarten- und Schulkinder bis zu einem Alter von 8 Jahren.

Als Beirat oder Beirätin erhalten Sie zwischen August 2023 und März 2024 viele Brettspielneuheiten zugeschickt, die Sie in Kita, Schule oder Ludothek und gegebenenfalls in der Familie ausgiebig ausprobieren. Anschließend verbleiben die Spiele dauerhaft im Fundus Ihrer Einrichtung oder Gruppe. Sie beteiligen sich an den Diskussionen innerhalb der Jury und sind bei der abschließenden Jury-Klausurtagung dabei, um bei der Auswahl für die Empfehlungs- und Nominierungsliste fundiert an der Debatte und Abstimmung teilzunehmen. Krönender Höhepunkt ist die Preisverleihung 2024, wenn Sie Ihre Stimme zur Wahl des Kinderspiels des Jahres 2024 abgeben.

Die ein Jahr dauernde Beiratstätigkeit beginnt im August 2023. Eine einmalige Verlängerung um ein weiteres Jahr ist möglich.

Der Verein Spiel des Jahres freut sich über Ihre Bewerbung mitsamt unseres ausgefüllten Fragebogens. Bitte schicken Sie eine kurze Beschreibung Ihrer Tätigkeit an mail@spiel-des-jahres.de.

Bewerbungsschluss ist der 31. Mai 2023.

➜ Download Fragebogen 2024

Kritikenrundschau: Challengers! – Party auf der Seitenlinie

Ein Turnier für zuhause? Mit Gummi-Enten, Vampiren, Visagisten und ein paar Aliens dazu? „Challengers!“ (Johannes Krenner und Markus Slawitschek bei 1 More Time Games und Z-Man Games) verspricht zumindest Absurdität. Ob sich das auch in Stadionatmosphäre für zuhause oder eher in ein wegen Regen abgesagtes Regionalligaspiel übersetzt, haben unsere Jurymitglieder in ihren jeweiligen Medien und in zahlreichen Duellen herausgefunden.

„Wir spielen ein Turnier! Bei acht Personen tritt jede einmal gegen jede an! Bei weniger Personen treten manche (oder gar alle) mehrfach gegeneinander an! Jedenfalls spielt jede:r sieben Partien! Oder sogar acht, denn die beiden Punktbesten erreichen das Finale und spielen noch einmal gegeneinander! Wer das Finale gewinnt, gewinnt ‚Challengers!‘“, erklärt Udo Bartsch das Spiel mit großzügig verteilten Ausrufezeichen. „Die Partien tragen wir mit Karten aus. Parallel. Bei ‚Challengers!‘ laufen kleine Zwei-Personen-Spiele nebeneinander. Anfangs besitzen alle dieselben sechs Karten. Vor jedem Duell darf ich mein Deck um bis zu zwei Karten erweitern.“

Für Bartsch macht „Challengers!“ weder der Deckbau- noch der Strategieaspekt das Spiel aus. Besonders ist für ihn, dass es als Turnier angelegt ist. „Wir wechseln unsere Sitzplätze. Wir treffen auf Gegner:innen, deren Deck wir nicht kennen und deren Karteneffekte uns vielleicht überraschen“, schreibt er. „Es entsteht ein Partygefühl, ohne dass man Partyspiel-übliche Dinge tut; alle kommen mit allen in direkten Kontakt. Und es entsteht eine Turnier-Dramaturgie: Manche Decks beginnen stark, gewinnen die ersten Partien und kippen irgendwann.“ Trotz großem Glücksanteil fühlt Bartsch sich unterhalten. Das Spiel „erschafft etwas Neues, das sehr gut unterhält und viel Spaß macht.“ Das sähen allerdings nicht alle Spieler:innen so: „Dass man seine Karten einfach nur durchmischt und dann eine nach der anderen aufdeckt, lässt bei manchen das Gefühl von Belanglosigkeit entstehen. Manche sind auch gefrustet, wenn andere viel tollere Karten nachrüsten konnten, während sie selbst vermeintlichen Murks zur Auswahl bekamen“, schreibt Bartsch. „Aber ‚Challengers!‘ ist eben kein Deckbau-Spiel, das zwangsläufig gewinnt, wer tiefer einsteigt. Der Glücksfaktor passt sehr gut zum Charakter des Spiels. Der Erfolg und damit auch der eigene Anteil am Erfolg sind hier Nebensache, weil man gemeinsam etwas erlebt“, schreibt er. Je größer die Runde, desto besser sei das gemeinsame Erlebnis.¹

Für Harald Schrapers ist „Challengers!“ sogar ein „geniales Spiel“, dafür garantiert der Turniermodus: „Das sorgt für eine tolle und oft ausgelassene Stimmung, die fast an ein Partyspiel erinnert. Das gelingt, obwohl hier auf jegliche Rate-, Pantomime- und ähnlich kreative Momente verzichtet wird.“ Er weist aber darauf hin, dass Mitspielende, die keine spielerischen Vorkenntnisse besitzen, benachteiligt seien. Zwar seien die Regeln eher einfach. „Die größte Hürde, ins Spiel hineinzukommen, entsteht während des Turniers: Viele Spielkarten haben spannende Sonderfunktionen, die eine Veränderung der Grundregeln nach sich ziehen und deshalb interpretiert werden müssen. Selbst mit Vorerfahrung ist das oft nicht leicht“, schreibt er. Der Einstieg könne holprig sein. „‚Challengers!‘ macht sich eh keine große Mühe, das breite Publikum zu erreichen“, schreibt Schrapers. „Wer nicht weiß, dass ein Kartenstapel auf Neudeutsch ‚Deck‘ heißt, rätselt schon beim oberflächlichen Blick in die Spielanleitung.“ In Expert:innen- oder Vielspieler:innenrunden könne es aber auch zu Frust kommen: „Strategischen Tiefgang bietet das Spiel überhaupt nicht, sondern hier wird viel Spektakel um einen recht glücksbetonten Kern gemacht“, schreibt er. Die besonderen Qualitäten zeigten sich erst in einer größeren Gruppe. „Hier wird gejubelt, gestöhnt und gerufen, auch wenn wir merken, dass sich das Duell von der Seitenlinie nicht beeinflussen lässt“, schreibt Schrapers. „‚Challengers!‘“ sorgt für spielerische Events, an die man noch lange zurückdenkt.“²

Martina Fuchs bringt „Challengers!“ gerne am Anfang eines Spieleabends auf den Tisch. „Man steht dann mal auf, man hat danach jeden mal gesehen, hat sich vielleicht auch mit Namen vorgestellt, wenn man sich noch nicht kannte.“ Auch für sie zeigt das Spiel seine „große Finesse“ erst in einer größeren Gruppe. Dennoch sei es nicht einfach zu erklären, gerade der Auswahlmechanismus der Karten könne Probleme bereiten. „Ich habe immer wieder Wenigspielende am Tisch, die überfordert sind von der Masse an Karten und Interaktionen, die diese Karten miteinander haben.“ Dennoch gefällt ihr „Challengers!“ „ausgesprochen gut“.³

Für sich genommen findet Stefan Gohlisch die Duelle in „Challengers!“ eher „banal“. Seine Würze bekäme das Spiel durch die Kartenauswahl. „Man möchte möglichst mächtige Karten, also welche mit hohem Wert, haben“, schreibt er. „Man möchte möglichst gleiche Karten haben, weil man die übereinander auf der Bank ablegen kann und sie darum platzsparender sind. Man möchte Karten haben, die untereinander in Wechselwirkung treten. Mikroentscheidungen entfalten größtmögliche Wirkung.“ Eine Partie dauere etwa eine Stunde. Darin hätten die „Autoren alles komprimiert, was Deckbauspiele ausmacht, sonst aber mit einem deutlich höheren Regelaufwand. Im Nu kommt hier ein echtes Turniergefühl auf – je mehr Menschen mitspielen, umso stärker.“

Auch Manuel Fritsch zeigt sich begeistert von der Turnieratmosphäre, die „Challengers!“ erzeugt. „‚Challengers!‘ ist das ideale Spiel für alle, die die hohe Kunst des Trashtalks zelebrieren. Eine voll besetzte ‚Challengers!‘-Partie mit acht Personen verwandelt jeden Spieleabend in kürzester Zeit in ein Stadion mit Lokalderby-Atmosphäre“, schreibt er. „Schadenfreude, Ärger und Jubelstürme liegen dank einer großen Portion Kartenglück immer eng beieinander.“ Auch für ihn liegt das eigentliche Spiel in der Entscheidungsphase und der Deck-Zusammenstellung zwischen den Matches. „‚Challengers!‘ zieht seine Stärke aus dem einzigartigen Eventcharakter und dem Ausprobieren von neuen Strategien und Karten-Combos“, schreibt er. „Selten habe ich mich mehr wie ein Sportcoach gefühlt, der verzweifelt vom Seitenrand erleben muss, wie der perfekte Schlachtplan einfach nicht in die Tat umgesetzt wird.“ „Challengers!“ definiere damit Deckbau neu. „Trotz der grafischen Schlichtheit eine absolute Empfehlung für alle größeren Gruppen ab fünf Personen, die sich an dem ungewohnten Konzept, nur zwischen den Runden Einfluss zu haben, erfreuen können.“
Es sei, ergänzt Fritsch in seinem Podcast, kein Spiel für alle. Bei seinen Partien seien meist zwei Leute dabei, meinten, das Spiel sei gar nicht für sie. „Aber auch fünf, die unbedingt noch einmal spielen wollten“, sagt er. „Es ist ein sehr polarisierendes Spiel, was ich bei einem Brettspiel, das etwas Neues probiert, durchaus positiv sehen würde.“ Einzig die grafische Gestaltung gefällt ihm nicht so gut: „Hier hat man viel Whitespace und so eine Art Avatar, aber das ganze drumherum ist sehr nackt“, beschreibt er die Karten. „Da hätte ein bisschen mehr Wumms reingehört.“

Das Spielprinzip von „Challengers!“ könne zunächst „irritierend“ sein, räumt Johanna France ein. Gleichzeitig fühle es sich „irrsinnig frisch“ und innovativ an. Zwar gäbe es Personen, die sich damit schwer täten. Sie allerdings findet es spannend und habe „vielseitige Partien“ erlebt, gerade auch, weil Spiele für eine große Runde manchmal rar seien. Allerdings seien einige Karteneffekte sehr ähnlich und sie fälle dort immer dieselben Entscheidungen. „Ich bin gespannt, ob es da lange Spielspaß gibt“, sagt sie.

Für Tim Koch heben zwei Dinge „Challengers!“ aus der breiten Masse der Spiele hervor. Einmal sei das der automatisierte Spielablauf. „Die zweite (und entscheidende) Besonderheit ist der Turnier-Charakter“, schreibt er. „Hier werden zwischen den Partien Erfahrungen ausgetauscht, gefachsimpelt, das eigene Pech beklagt oder die Siege bejubelt. Gerade dieses ‚Meta-Spiel‘, der ‚Trash-Talk‘, zwischen den Runden ist eine besondere Erfahrung.“ Koch sieht allerdings auch Schwachstellen. „Denn auch wenn das Spiel bereits ab 2 Spielerinnen funktioniert, entfaltet es seinen besonderen Sog erst in größeren Gruppen.“ Der Bot, der in Runden mit ungerader Spielendenzahl dabei ist, funktioniere, „aber Partien gegen menschliche Gegner sind einfach um Längen spaßiger“, schreibt er. „Nicht zu empfehlen ist das Spiel für alle jene, die alles unter Kontrolle haben wollen. Denn ‚Challengers!‘ soll in erster Linie Spaß machen und Emotionen wecken. Der Glücksanteil ist entsprechend hoch, was gerade bei der Auswahl neuer Karten auch mal zu Frust führen kann.“ Entgehen lasse solle man sich „Challengers!“ trotzdem nicht.

Stephan Kessler und Nico Wagner liefern sich ein Duell zu „Challengers!“, sind sich aber am Ende recht einig über das Spiel. Das Spiel spalte die Gemüter, sagt Kessler, „es gibt Leute im Vielspielerbereich, die wenig damit anfangen können, weil zu wenig Entscheidungen dabei sind.“ Er jedoch liebe es. „Ich fluche und ich juble und ich möchte wissen, was die anderen haben“, beschreibt er seine Spielerfahrung. Der Kern des Spiels ist für ihn das Miteinander. Auch hinterher rede er noch gerne mit den Mitspieler:innen über die unterschiedlichen Decks und den Turnierablauf. Wenn man das Spiel zu dritt spiele, müsse man sehr oft gegen den Bot antreten, deshalb würde Kessler es nicht empfehlen. Zu fünft oder zu siebt ginge es, „da spielt man einmal auch gegen den Bot, das ist nicht so wild.“ Allerdings könnten Material und Grafik besser sein – seine Karten seien „schnell hinüber“ gewesen und die Grafik habe ihn nicht angesprochen. Es sei ein „großer Minuspunkt, dass man sich kein besseres Thema hat einfallen lassen“, so Kessler
„Es gibt Leute, die sagen: Wo ist denn das Spiel in diesem Spiel?“, meint Nico Wagner in dem Gespräch. Denn mit den wenigen Karten, die hinzukommen, würde gar kein richtiges Deckbuilding entstehen. Das Spiel habe ihn deshalb nicht über die Mechanik abgeholt. Denn das Spiel sei wie eine Murmelbahn. „Ich baue die, setzte die Murmel darauf und schaue, was passiert.“ Mittlerweile sei er „schockverliebt“ in „Challengers!“, auch wenn in den ersten Partien die Regeln eine „kleine Einstiegshürde“ darstellten.

Ein zweites Duell liefern sich Julia Zerlik und Christoph Schlewinski. Julia Zerlik lobt hier das Material und bemerkt, dass „Challengers!“ ein Spiel sei, „dass es so noch nicht gab“. Die Karten und ihre Fähigkeiten findet sie zwar abwechslungsreich, das Spiel als solches bezeichnet sie allerdings als „schrecklich“. „Alle haben irgendwie Spaß, aber ich hatte keinen Spaß. Und das passiert mir selten“, sagt sie. „Ab den ersten Karten weiß ich schon: Ich werde gewinnen oder verlieren.“ Sie könne „damit wirklich gar nichts anfangen“ und bemängelt, viel zu wenig Einfluss auf das Spiel zu haben. In einigen Runden habe es zwar funktioniert – in anderen nicht. „Hier gehen die Meinungen extrem weit auseinander.“
Schlewinski findet „Challengers!“ in „seiner Simplizität speziell“. Es sei ein „Loslassen-Spiel, wo man zwar was machen kann, aber nichts beeinflussen“, sagt er. „Die Leute, denen es gefällt genießen es, keinen typischen Deckbuilder zu haben.“ Man müsse sich auf das Spiel und die Spannung des Aufdeckens einlassen. Er selbst fände es „superlustig“ und habe erlebt, dass es „viele Emotionen“ auslöse. „Es gibt wahnsinnig viel Gestöhne und Gejubel.“¹⁰

Ungewöhnlich, aber „erfrischend anders“ findet auch Bernhard Löhlein „Challengers!“. Er fiebere in jeder Runde mit: „Hoffentlich kommt jetzt die richtige Karte. Manche erscheinen zu früh, manche zu spät. Gut, dass es den Transfer-Markt gibt. So kann ich als Trainer meine Truppe ein wenig auffrischen“, sagt er.¹¹
Auch in unserem spielerischen Quartett war „Challengers!“ Thema. Hier ergänzte Bernhard Löhlein seine Kurzkritik noch: „Ich liebe ‚Challengers!‘“. Gerade, dass man nicht mehr eingreifen könne, macht für ihn den Reiz des Spiels aus. „Ich kann alles hervorragend vorbereiten, ich kann denken, ich habe es im Griff, aber nein: Ich hab’s nicht im Griff. Es kommt halt doch, wie es kommt. Und das macht für mich Spielen aus.“¹²

¹ Rezensionen für Millionen: Challengers!
² games we play: Challengers
³ Fux&Bär: Challengers – Ist das gut oder kann das weg?
⁴ Neue Presse vom 16.12.22
⁵ Spielbox 1/23: Über sieben Runden müsst ihr gehen
Insert Moin: Le Brett vom 7.11.22
Spümaschin 34
Spielfreu(n)de: Challengers!
Brettagogen #207
¹⁰ Spiel doch mal…: Frisch vom Tisch Vol. 58
¹¹ Radio IN: Spiel der Woche vom 29.4.23
¹² Das spielerische Quartett #17

Das spielerische Quartett: Fritsch, Wagner, Kessler, Cho

Manuel Fritsch, Nico Wagner und Stephan Kessler sprechen mit Jennifer Cho über „Pacifica“ von Matthias Prinz und Martin Kallenborn (Kosmos), „Kunterpunkt“ von Julia Thiemann und Christoph Waage (Topp), „Planet Unknown“ von Ryan Lambert und Adam Rehberg (Strohmann Games / Adam’s Apple) sowie „Sea, Salt & Paper von Bruno Cathala und Théo Rivière (MM-Spiele). Gastkritikerin Jennifer Cho, die ist regelmäßig in ihrem Podcast Pile of Happiness zu hören ist. Hier bespricht sie Spiele zusammen mit ihrer Podcast-Kollegin Tina Kasten.

Folge 34: Spielerisches Quartett #18

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Aktuelle Spiele für euch: Das spielerische Quartett ist wieder zusammengetreten, um sich vier Spiele ganz genau anzuschauen.

Als Moderator führt Jurymitglied Manuel Fritsch durch die Folge. Außerdem sind die Juroren Nico Wagner und Stephan Kessler dabei. Die eingeladene Gastkritikerin ist Jennifer Cho, die regelmäßig in ihrem Podcast Pile of Happiness zu hören ist. Hier bespricht sie Spiele zusammen mit ihrer Podcast-Kollegin Tina Kasten.

Folgende Spiele sind dabei: „Pacifica“ von Matthias Prinz und Martin Kallenborn, erschienen bei Kosmos, „Kunterpunkt“ von Julia Thiemann und Christoph Waage, erschienen bei Topp, „Planet Unknown“ von Ryan Lambert und Adam Rehberg, erschienen bei Strohmann Games und Adam’s Apple Games, sowie „Sea, Salt & Paper“ von Bruno Cathala und Théo Rivière, erschienen bei MM-Spiele.

Kritikenrundschau: Next Station London – Planung im Untergrund

London

Wer in einer fremden Stadt U-Bahn fährt, kennt dieses Gefühl von Verlorenheit: Man steht in irgendeiner Station, fährt mit dem Finger bunte Linien nach und versucht, sich durch den Untergrund irgendwie zur nächsten Touristenattraktion zu manövrieren. Da wäre es doch viel einfacher, wenn man, sagen wir, ein eigenes U-Bahn-Netz entwerfen könnte. „Next Station London“ (Matthew Dunstan bei HCM Kinzel) ist eine gute Probefahrt für die eigenen stadtplanerischen Fähigkeiten. Unsere Jurymitglieder sind in ihren jeweiligen Medien eingestiegen.

„‚Next Station London‘ gehört zu den sogenannten Flip-and-Write-Spielen, das heißt, es wird eine Karte umgedreht (flip) und dann zeichnen (write) alle etwas auf ihrem Spielplan ein“, erklärt Stephan Kessler das Spiel. „Recht abstrakt befinden sich Symbole auf den Karten, die vorgeben, welche Stationen miteinander verbunden werden dürfen. Wird ein Quadrat umgedreht, dann verbinde ich die Anfangs- oder Endstation meiner Linie mit einem Quadrat. Wenn fünf pinke Symbolkarten aufgedeckt wurden, ist eine Linie vollständig“. Dafür kassiere man Punkte. Je mehr Stationen und Regionen angefahren wurden, desto besser. Passiert man die Themse oder kommt an einer Sehenswürdigkeit vorbei, schreitet die Punktesumme zusätzlich voran. Dann reicht man den farbigen Stift weiter und wiederholt dieses Vorgehen bis nach vier Runden London mit neuen U-Bahnen ausgestattet ist.“

London

In Kesslers Runden, schreibt er, hätte sich das Spiel „nach und nach zum Geheimtipp“ entwickelt. „Es blieb kaum bei nur einer Partie, da die Aufgabe herausfordernd, aber eingängig ist.“ Auch die Lernkurve gefällt ihm: „Mit der Zeit lernt man das Risiko des Kartendecks einzuschätzen. Anders als beim Würfelwurf kann ich zum Beispiel sicher sein, dass das Quadrat noch kommen wird. Die Frage ist nur wann.“ Man könnte taktisch geschickt versuchen, bestimmte Stationen anzusteuern – wenn dann aber die passende Karte nicht kommt, müsste man „schmerzlich erfahren, dass man sich buchstäblich in die Sackgasse gefahren hat.“ Stephan Kessler gefällt, dass es im Spiel „extrem wenig Wartezeit“ gebe und man immer beschäftigt sei, was allerdings bedeute, dass beim Spielen keinerlei Interaktion entsteht. Abzüge vergibt er in der B-Note: „Die Anleitung als Faltheftchen ist unübersichtlich gestaltet und hätte einen besseren Aufbau mit mehr Beispielen verdient gehabt.“¹

Auch mit Nico Wagner unterhält sich Kessler über „Next Station London“. Dort bekräftigt er noch einmal: „Es ist sehr herausfordernd, was man da macht, denn ich muss ein bisschen Risikomanagement betreiben. Je mehr ich es gespielt habe, desto mehr habe ich es gemocht“, sagt Kessler.
Wagner meint, dass ihm das Spiel am Anfang zwar gefallen habe, „aber da war es noch am unteren Rand von ‚gefallen‘“. Mittlerweile habe er es öfter spielen können, „und es hat sich bei mir gemausert, weil du nach und nach erkennst, worauf man tatsächlich achten kann.“ So offensichtlich, wie er am Anfang dachte, seien die Entscheidungen nicht. „Wenn du passen musst, weil du Sackgassen gebaut hast, dann merkst du: Ich sollte auf solche Sachen achten und nicht nur die Rundenziele erfüllen.“ Auch die beiliegenden Sonderwertungskarten gefallen ihm. „Mir macht das mittlerweile echt Spaß.“²

„Leichtgängig und nicht banal“ sei „Next Station London“, findet Stefan Gohlisch. Außerdem sei es „schnell erklärt und schwer gemeistert. Für ihn ein „tolles ‚Flip and Write‘-Spiel. Hübsch sieht es auch aus.“ Gohlisch wünscht sich eine Ausgabe für seinen Wohnort Hannover.³

Bernhard Löhlein kommen die Symbole auf den aufgedeckten Karte nicht immer gelegen. Vor allem „gegen Ende wird das ganz schön eng mit dem Schienennetz“. Löhlein findet, dass „Next Station London“ ein sehr solitäres Spiel sei. „Eigentlich spiele ich es für mich allein und vergleiche nur am Ende das Ergebnis mit den anderen“, sagt er. „Trotzdem packt mich das vom ersten Strich an. Bin immer am Knobeln, es muss doch einen Weg aus der Sackgasse geben.“ Für ihn gibt es „keine Bahnfahrt mehr ohne“.

Für Harald Schrapers ist trotz Zufallselement „reichlich Planbarkeit gegeben, weil man immer im Blick hat, welche Symbole mit Sicherheit noch kommen werden“. Dennoch würden die Baumöglichkeiten „im Laufe des Spiels immer eingeschränkter, weil bereits belegte Trassen nicht mehr gequert werden dürfen“. Die Punkteberechnung und die Spielregeln seien ziemlich einfach durchzuführen. „Umso größer ist die Herausforderung, die Netzplanung wirklich erfolgreich zu Papier zu bringen.“ Insagesamt findet er: „‚Next Station London‘ ist ein spannendes Spiel, das thematisch dadurch gefällt, dass man oft ein recht real aussehendes Nahverkehrsnetz schafft.“

Julia Zerlik hat aufgrund der starken Glückskomponente Schwierigkeiten mit der Lernkurve. „Es kann vorkommen, dass es Züge gibt, bei denen man nichts einzeichnen kann. Das ist ärgerlich, gehört aber dazu“, sagt sie. „Ich kann nicht behaupten, dass ich mich deutlich verbessert habe von Partie zu Partie.“ Der Lerneffekt über die Runden sei „minimal“. Eine Strategie könne man kaum verfolgen. „Man muss sich immer an die aktuelle Situation anpassen.“ So sei das Spiel immer wieder eine Herausforderung. Ihr gefalle „Next Station London“ gut, denn es fühle sich rund an und sei sehr gut durchdacht.

Udo Bartsch findet: „Das Wertungsprinzip ist zunächst nicht sehr eingängig, was sicherlich auch daran liegt, dass man sich beim Malen unbewusst an der Streckenführung realer Liniennetze orientiert und viele verschiedene Punkte der Stadt anbinden möchte. Mit dieser Strategie fährt man in ‚Next Station London‘ aber nicht so gut. Mit einer konkreteren Idee, was gut sein könnte, werden die Abwägungen spannender.“ Zwar funktioniere das Solospiel genauso wie das Spiel zu mehreren, schreibt er. „Mehr Spaß macht es, gegen andere statt gegen den eigenen Highscore anzutreten, zumal die Punktestände verschiedener Partien nur halbwegs miteinander vergleichbar sind. Die zufällige Länge der Durchgänge macht einen großen Unterschied.“ Entscheidungen und Züge gäbe es in „Next Station London“ zwar nur wenige, dafür seien es aber, trotz starkem Zufallselement, „relevante Entscheidungen. Oder zumindest relevante Spekulationen“, schreibt er. „Und der Ausgang von Spekulationen ist nun mal spannend: Klappt es wie erhofft oder kommt ausgerechnet die eine Karte, die es nicht sein darf?“ Für Bartsch ist gerade das Spielprinzip mit den vier unterschiedlichen Farben reizvoll. „Einerseits sollen sich die Linien nicht behindern. Andererseits zählt es Punkte, Stationen mehrfarbig zu erschließen. So will ich Distanz und Nähe zugleich“, schreibt er. Auch ihm ist das Spiel erst mit der Zeit ans Herz gewachsen. „Natürlich wiederholen sich bestimmte Muster mit der Zeit. Ich werde aber trotzdem nicht müde, es zu spielen, denn ‚Next Station London‘ baut zuverlässig Spannung auf und bringt gemessen an Aufwand und Spieldauer die richtige Tiefe mit“, schreibt er.

Johanna France findet, dass „das Level an Herausforderung sehr gut getroffen“ sei. Auch ihr fällt auf, dass „Next Station London“ extrem solitär ist. Dennoch gefällt ihr das Spiel, insbesondere die beiliegenden Sonderkarten. Die sorgten für mehr Komplexität und für „eine zusätzliche Ebene, auf die man achten muss“, sagt sie.

Auch im Spielerischen Quartett wurde „Next Station London“ besprochen. „Dadurch, dass wir mit Buntstiften zeichnen, ist man geneigt, das wegzuradieren“, sagt Christoph Schlewinski dort. „Und wenn man dann da rumradiert, kann das ein wahnsinniges Geschmiere auf dem Plan geben.“ Zu Beginn habe er sich gefragt, ob ein Spiel dieser Art nötig sei. „Aber dann habe ich es gespielt und gedacht: Doch, das brauchen wir bitte. Weil ich das Gefühl habe, dass ich wirklich ein U-Bahn-Netz baue.“ In seinen Runden seien alle „fasziniert davon“.

¹ Krimimaster: Next Station London – Mind the gap!
² Brettagogen #207
³ Neue Presse vom 2.3.2023
⁴ Radio IN: Spiel der Woche vom 21.1.2023
⁵ Spielbox 2/23: Unterirdisch planen
Spiel doch mal…: Frisch vom Tisch Vol. 57
Rezensionen für Millionen: Next Station London
Spümaschin 36 – Dezember 2022
Das spielerische Quartett #15

Kritikenrundschau: Dorfromantik – Stadtflucht mit Plättchen

Raus aus der Stadt, ab ins Naherholungsgebiet! Oder gleich ab aufs Land, mit seinen wogenden Getreidefeldern, munter plätschernden Bächen und malerischen Dörfern. Danach zumindest klingtder Titel des auf einem Computerspiel basierenden „Dorfromantik“ (Michael Palm und Lukas Zach bei Pegasus Spiele). In ihren jeweiligen Medien haben unsere Jurymitglieder die dörfliche Idylle Plättchen für Plättchen erkundet.

„Sechseckplättchen werden gelegt. Sie zeigen die Landschaftstypen Wald, Getreide, Dorf, dazu Flüsse und Bahngleise. Flüsse und Gleise dürfen beim Anlegen nicht unterbrochen werden; die anderen Landschaften passen immer“, erklärt Stefan Gohlisch das Spiel. „Dazu liegen immer drei Auftragsplättchen aus, dazu Marker. Die besagen, welcher Landschaftstyp hier wie oft benachbart liegen sollte. Ist ein Auftrag erfüllt, sammelt man Punkte und legt das nächste Auftragsplättchen aus. Sind alle Landschaftsplättchen aufgebraucht, werden die Punkte gezählt.“

„Dorfromantik – das Brettspiel“ sei ein „cozy game“ findet Gohlisch, und dabei gleichzeitig die „Quintessenz eines Legespiels“. Er schreibt: „Durch die große Reduktion entsteht eine fast meditative Stimmung am Spieltisch, ohne dass man das Gefühl bekommen muss, es ginge um gar nichts. Spielerischer Ehrgeiz entsteht zum einen dadurch, dass man gerne den eigenen Highscore knacken möchte. Zum anderen schalten höhere Punktzahlen nach und nach neue Regeln und Möglichkeiten frei, verborgen in fünf verschlossenen Kartons in der Spielschachtel. Man möchte einfach wissen, was drinsteckt.“ Für Gohlisch ist „Dorfromantik“ „ein Kaffee-und-Kuchen-Spiel, das gekonnt auf Harmonie statt auf Wettbewerb setzt, ohne dabei banal zu sein. Das macht es zu einem idealen Kandidaten für Gelegenheitsspieler und für eine Partie nebenher.“¹

Maren Hoffmann entdeckt in „Dorfromantik – Das Brettspiel“ eine „kongeniale“ Übersetzung des digitalen Spieles ins analoge Spiel. Es stünde dem Original in nichts nach, findet sie. „Der friedlich-meditative Landschaftsbau am Familientisch funktioniert in fast jeder Runde exzellent – allein natürlich auch, wenn man mal digital detoxen und trotzdem spielen möchte. Im Grunde ist es nämlich ein Solospiel geblieben, das man aber prima mit anderen teilen kann und das über einen extrem entspannten Hop-on-hop-off-Mechanismus verfügt“, schreibt Hoffmann. Insgesamt findet sie es ein „belohnendes Wohlfühlspiel“, gerade auch, weil immer mehr Zusatzelemente ins Spiel kämen.²

Bernhard Löhlein wird in seinen Partien vom „Dorfromantik-Virus“ gepackt: „Am Ende wollen wir eine hohe Punktzahl erreichen“, sagt er. „Dann dürfen wir weitere Schachteln öffnen und die nächste Herausforderung freischalten. Es wurde Abend und es wurde Morgen. Nächste Partie.“ Für ihn ist die sachte Lernkurve des Spiels bemerkenswert: „Der Einstieg ist einfach, das Spiel führt uns behutsam an die neuen Aufgaben heran. Da schlägt das Spielerherz höher“, sagt er.³

Auch Manuel Fritsch erkennt im Brettspiel das digitale Spiel sofort wieder. „Das Spielprinzip und -gefühl sind dem digitalen Vorbild sehr ähnlich, die Ästhetik und Tischpräsenz sofort erkennbar. Die grundlegendste Änderung: Die Papierumsetzung wirft – vermutlich nicht nur aufgrund der aktuellen Rohstoffpreise – den Endlosstapel über Bord. Der ‚Überlebensmodus‘ ist einer Kampagne gewichen, die in mehrere rund dreißig- bis vierzigminütige Partien unterteilt ist.“ Das neue Material in den Schachteln zu entdecken, findet Fritsch „motivierend“, findet dort aber auch ein kleineres Manko: „Parallel laufende Spielgruppen mit unterschiedlichen Fortschritten sind nicht ohne zeitraubende Sortierarbeiten vor jedem Wechsel vorzubereiten.“ Dennoch hätte es das Autorenduo geschafft, „die meditative PC-Soloerfahrung in eine gesellige und kommunikative Gruppenarbeit zu verwandeln“, schreibt er. „Es ist eine Freude zu beobachten, wie selbstverständlich und leidenschaftlich Wenig- bis Quasi-Garnicht-Spielende nach wenigen Partien auch mit selbsternannten Experten gemeinsam über die beste Anlegestelle debattieren. ,Dorfromantik‘ eliminiert das Problem des in kooperativen Spielen so häufig auftretenden Leithammels. Die eine perfekte Stelle zur Lösung der nächsten Aufgabe existiert nur sehr selten, und selbst dann kann einem das Kartenglück einen Strich durch die Planung machen.“ Fritsch lobt außerdem das sehr positive Spielerlebnis: „Es gibt keine Bestrafung dafür, wenn die Punktzahl nicht für die nächste Geheimnisbox reicht. Jede Partie wird positiv auf dem Kampagnenblatt vermerkt und ist immer mit Progression verbunden. ‚Dorfromantik‘ passt sich dem Tempo der Gruppe an. Es funktioniert sowohl in Runden, in denen ganz klar fokussiert immer eine konkrete Aufgabe in den Mittelpunkt gestellt wird, als auch in einer Gruppe, die lieber ästhetisch und schön bauen möchte.“ Der Verlag hätte hier einen „echten Coup“ gelandet.

Diesen Eindruck bekräftigt Fritsch von einmal in seinem Podcast: „15 Partien haben wir jetzt gespielt, und ich habe immer noch Lust drauf“, sagt er. Außerdem ergänzt er: „Es ist ein ideales Solospiel, aber es funktioniert auch als kooperatives Spiel wirklich gut.“ Mit mehr als vier Menschen würde er es allerdings nicht spielen.

Am Anfang, sagt Julia Zerlik, hätte sie das Spiel nicht in seinen Bann geschlagen. „Je mehr wir freigeschaltet hatten, desto mehr haben wir diskutiert über die einzelnen Züge. Auf einmal hat es uns so richtig reingezogen.“ Sowohl zu zweit als auch zu viert habe ihr das Spiel gut gefallen. Zu sechst würde sie es allerdings nicht spielen wollen. Die Partien könnten sich dann ziehen, weil sich die Diskussionen über die Spielzüge sehr in die Länge ziehen könnten. Zwei Kritikpunkte hat sie: Die Grenzen der Plättchen könnten manchmal etwas unübersichtlich sein. „Das hätte man einen Ticken klarer machen können.“ Außerdem seien die Regeln der neuen Plättchen oft nicht ganz klar. Hier müsse sich die Runde einigen. „Es macht viel Spaß diese Boxen zu erkunden. Für meinen Geschmack hätte noch mehr Material dabei sein können.“

Auch Udo Bartsch sei zunächst skeptisch gewesen, schreibt er und bezeichnet die Anlegeregeln als „irritierend einfach“. „Gruppen, mit denen ich ‚Dorfromantik‘ ausprobiert habe, wollten nach einer oder zwei Partien schon nicht mehr weitermachen, was dazu geführt hat, dass ich immer wieder das Startszenario gespielt und mich gelangweilt habe.“ Doch „wenn mehr Teile und Projekte ins Spiel kommen und viele Dinge gleichzeitig unter einen Hut gebracht werden müssen“ werde das Spiel zunehmende interessant. „Gerade die Tatsache, dass man nicht alles optimal hinkriegen kann, motiviert dazu, es immer wieder von Neuem anzugehen“, schreibt Bartsch. „Bald entwickelt sich ein Flow. Obwohl man immer wieder von vorn beginnt, hat ‚Dorfromantik‘ den Reiz eines Endlosspieles. Es beginnt ganz klein – und wird immer größer, gar riesig. Es geht immer voran, mal schneller, mal langsamer, das Spielgefühl ist konstruktiv. Man kann auch gar nicht verlieren, sondern höchstens weniger gewinnen.“ Es sei eine „gemütliche Puzzelei“. Er freue sich auf Erweiterungen, schreibt Bartsch, auch wenn er die Regeln für neue Teile nicht immer perfekt erklärt findet und das Spiel für nicht mehr als vier Personen empfiehlt.

Martina Fuchs ist begeistert, vor allem vom Verlauf der Kampagne: „Später wird es so schwierig, die Aufträge zu erfüllen, dass man vorausplanen muss“, sagt sie. Das hätte in ihren Spielrunden dazu geführt, „dass es Jubel, Frust, dass es alles Mögliche an diesem Tisch gibt. Denn je länger man dieses Spiel spielt, desto riskanter spielt man.“ Es sei ein „Wohlfühlspiel“, das einem immer wieder neue Möglichkeiten eröffne. Auch mit Viertklässlern habe das Spiel sehr funktioniert. „Im Moment könnte ich ständig ‚Dorfromantik‘ spielen.“

Auch Tim Koch fühlt sich in der hübschen Landschaft wohl. „Der kooperative Aspekt beschränkt sich auf gemeinsame Überlegungen, die Legeregeln lassen einem möglichst viele Freiheiten. Da der Zufall eine nicht unwesentliche Rolle spielt, geht der Diskussionsstoff dabei nicht aus“, schreibt er. „Und selbst wenn es mal nicht läuft, vermitteln die Punkteausbeute und die neu freigeschalteten Elemente ein positives Spielgefühl. Die verschlossenen Boxen und der Reiz des Neuen locken einen immer wieder an den Spieltisch. Gerade erfahrenere Spieler lechzen schnell nach weiteren Herausforderungen und gegen Ende müssen viele Elemente jongliert und viele Punktequellen unter einen Hut gebracht werden.“ Koch findet, dass die Regeln nicht optimal gelöst seien. „Einige der neuen Spielelemente sind nicht gut erklärt und führen zu Verwirrung und Spielfehlern. Zudem kommt ,Dorfromantik‘ gerade bei erfahrenen Spielern teilweise etwas zu brav daher. Ganz ohne Ecken und Kanten, fast schon ohne echte Herausforderung.“ Es sei eben ein Spiel, in dem man „gemütlich, sorgenfrei und gemeinsam etwas Neues entdecken“ könne.

Johanna France sagt: „Ich habe da ein richtiges Suchtpotential entwickelt.“ In ihren Runden seien sie „richtig reingezogen“ worden. Viel Reiz entstehe dadurch, dass man immer wieder etwas Neues ins Spiel kommt. „Das Freischalten ist total aufregend.“ Kritik übt sich am großen Glückfaktor: „Ich hatte Partien, wo wir gezogen haben und alle Aufträge erfüllt haben, ohne dass wir das Gefühl hatten, besonders gut gespielt zu haben.“ Schade findet sie außerdem, „dass sich viele der freigeschalteten Plättchen sehr ähnlich sind.“ Dennoch sei das Spiel „für Personen, die nicht viel spielen, ein großartiger Einstieg.“¹⁰

Stephan Kessler findet „Dorfromantik“ „wahrlich nicht innovativ. Aber das Konzept des Plättchenlegens wurde hier gekonnt heruntergebrochen.“ Für ihn funktioniert das Spiel eher auf eine „meditativer Ebene“, sagt er. „Voll im Flow erfüllt man Aufgabe um Aufgabe und vor den Spielenden entsteht meist eine wunderschöne Dorflandschaft. Viele unterschiedliche Arten von Menschen werden dadurch angesprochen und vor dem Spieltisch vereint.“ Für ihn fehlen allerdings die emotionale Höhepunkte. „Es gibt nur wenige Momente, in denen wir uns voller Freude abklatschten.“ Denn durch die neuen Spielemente sei „der Erfolg vorprogrammiert“, allerdings variierten sie das Spielprinzip nur sehr wenig, findet er. „Dadurch fühlen sich die einzelnen Partien trotz neuer Plättchen recht gleich an.“¹¹

Kessler spricht auch mit Nico Wagner über „Dorfromantik“. Hier kritisiert er, dass gegen Ende der Kampagne viele Plättchen dazukämen. Dann hätten sich die Partien so angefühlt, „als würde ich eine Checkliste abarbeiten“.
Nico Wagner meint: „So sehr mir die Einzelpartien gefallen: Der Kampagnenmodus gefällt mir nicht so gut.“ Viele der neu ins Spiel gekommenen Plättchen seien sehr ähnlich. „Wenn du viel freigeschaltet hast, wird es ein bisschen Stadtplanung: nicht mehr so locker-leicht wie am Anfang.“ Plötzlich gebe es zehn Wertungen, „und zwar alle gleichzeitig.“ Auch Wagner empfiehlt das Spiel für Gruppen mit bis zu vier Spielenden. „Ansonsten könnten Fehler in der Übersicht passieren, weil man gerade im Solospiel nicht auf alle Wertungen gleichzeitig achten könne.¹²

Harald Schrapers weist darauf hin, dass bei „Dorfromantik“ ein „Wissenstransfer vom analogen zum digitalen Spiel und wieder zurück“ stattgefunden habe – denn schon in der Begründung des Deutschen Computerspielpreises, den die digitale Variante des Spiels erhalten hat, habe gestanden: „Ähnlich einem analogen Brettspiel werden nach und nach Karten aneinandergereiht, um ganz ohne Zeitdruck eine Landschaft aufzubauen“, so Schrapers. „‚Dorfromantik‘ ist in seiner digitalen Version ein Solospiel, und im Grunde ist seine analoge Variante auch eines. Doch macht es keinen Sinn, etwas solitär auf einem Tisch zu spielen, was es viel attraktiver aufbereitet auch als Spiel für den PC oder die Nintendo Switch gibt. Sondern das haptisch greifbare Material macht aus ,Dorfromantik‘ ein Gesellschaftsspiel, das man in Gemeinsamkeit mit einem anderen Menschen erleben möchte.“ Wichtig sei dabei allerdings, dass „zwei Leute miteinander spielen, die sich auf ähnlicher spielerischer Wellenlänge befinden. Wenn bei einer Seite das Gefühl entsteht, es allein viel effizienter spielen zu können, macht das Spiel niemandem wirklich Freude. Wenn man hingegen gut harmoniert, erzeugt ,Dorfromantik‘ einen spielerischen Sog.“ Für mehr als zwei Personen empfiehlt Schrapers das Spiel nicht: „Denn selbst in höheren Leveln gibt es kaum derart kniffligen Situationen, dass man für deren Lösung die gebündelten Überlegungen von mehreren Mitspielenden benötigt.“¹³

Auch im spielerischen Quartett war „Dorfromantik“ Thema. „Ich sehe das vor allem als Solospiel“, sagt Karsten Grosser dort. „Soviel Diskussionsstoff gibt es da gar nicht, weil die Möglichkeiten begrenzt sind.“ Das Spiel habe ein cleveres Konzept. Aber das, was von Partie zu Partie hinzukomme, verändere nichts Weltbewegendes. Er erkenne, „dass das ein gutes Spiel ist. Aber es fesselt mich nicht“, kritisiert er im Spiel-des-Jahres-Podcast.¹⁴

¹ Neue Presse, 25.11.2022
² Spiegel: Harmonischer wirds nicht. Brettspiele zum Wohlfühlen (kostenpflichtig)
³ Radio IN: Spiel der Woche vom 11.2.2023
⁴ Spielbox 6/22: Von Pixel zu Pappe
Le Brett vom 7.11.22
Spiel doch mal…: Dorfromantik
Rezensionen für Millionen: Dorfromantik – Das Brettspiel
Fux&Bär: Dorfromantik: Ist das gut oder kann das weg?
Spielfreu(n)de: Dorfromantik
¹⁰ Spümaschin 36
¹¹ Krimimaster: Wie schaffe ich es, eine idyllische Landschaft zu erschaffen?
¹² Brettagogen #207
¹³ games we play: Dorfromantik
¹⁴ Das spielerische Quartett #16

Kritikenrundschau: Endless Winter – Materialschlacht in der Eiszeit

Draußen wird es Frühling – auf dem Spieltisch herrscht aber Eiszeit. Jedenfalls in „Endless Winter“ (Stan Kordonskiy bei Pegasus / Frosted Games / Fantasia). Und da gibt es eine Menge zu tun: Jagen, sammeln, beten, vor allem aber: Siegpunkte anhäufen. Unsere Jurymitglieder hat sich in ihren jeweiligen Medien in Felle gehüllt und die eiskalte Welt auf dem Spielbrett erkundet.

„In einem Eiszeit-Szenario sammeln wir Siegpunkte. Der Hauptmechanismus ist Personaleinsatz. Wir haben aber nur drei Figuren und setzen sie nur viermal ein. Pro Person umfasst die Partie also zwölf Züge; die allerdings sind mehrteilig“, erklärt Udo Bartsch das Spiel. „Auch Deckbau und Handmanagement sind Elemente in ‚Endlesse Winter‘. Nachdem ich meine Figur auf dem Spielplan eingesetzt habe, unterstütze ich die ausgelöste Aktion mit passenden Handkarten. Beispielsweise gibt es die Aktion ‚Jagen‘, wofür ich Werkzeug und Arbeitskraft benötige. Ein von meiner Hand gespielter ‚Jäger‘ bringt mir für die Jagd besonders viel Arbeitskraft. Ich könnte den Jäger auch bei anderen Aktionen einsetzen; dann wäre er aber weniger stark. Außer Jagen gibt es auf dem Spielplan noch drei weitere Aktionen: Beim ‚Einweihen‘ erwerbe ich weitere Stammeskarten und entsorge ungeliebte. Beim ‚Entwickeln‘ erwerbe ich Fortschrittskarten mit attraktiven Effekten. Fortschrittskarten darf ich unabhängig von der gewählten Aktion in meinem Zug zusätzlich ausspielen. Und mit ‚Weiterziehen‘ bewege ich meine Einheiten auf dem Geländespielfeld und gründe dort Siedlungen.“

Für Bartsch eröffnet das Spiel viele verschiedene Schauplätze: „Auf dem Geländespielfeld breiten wir uns aus und bilden Mehrheiten. Auf dem Bauplatz liefern wir uns ein Legespiel-Wettrennen um wertvolle Plätze für die Megalithen. Auf der Götzentafel steigen wir auf, um gute Schlusswertungen abzugreifen. Auf der Tiertableau jagen wir Tiere, um Sets gleicher Arten zu sammeln.“ Es sind also viele Spielstationen, die Bartsch erst einmal vor ein ganz praktisches Problem stellen: „All diese Spielstationen auf dem Tisch überhaupt unterzubringen, erfordert sehr viel Platz. Sie für alle gut erreichbar unterzubringen, ist fast unmöglich.“
Auch andere Dinge sind für Bartsch in „Endless Winter“ zu viel: „Mitspieler:innen bei ihren langen Kettenzügen zuzusehen ist wenig spannend, zumal auch nichts passiert, was mir besonders sehenswert vorkommt. Aber Denkpausen lassen sich hier schwer vermeiden, weil man perfekt haushalten und vieles gleichzeitig unter einen Hut bringen muss“, schreibt er. Zwar seien die einzelnen Elemente „passabel miteinander verzahnt.“ Allein einen spielerischen Mehrwert sieht Bartsch nicht. „Endless Winter“ wirke, „als sei genau dieses ‚Mehr‘ die Devise bei der Spielentwicklung gewesen“, schreibt er. „Für jeden Mechanismen-Geschmack ist etwas dabei, viel Zeug, viel Grafik, riesige Schachtel. Und natürlich Miniaturen. Nur: Was ist jenseits der Opulenz der Leitgedanke? Was ist das Besondere? Das Einzigartige?“ Am Ende fehlt ihm in „Endless Winter“ etwas Entscheidendes: „Die vielen Mechanismen in ‚Endless Winter‘ werden für mein Empfinden nur miteinander verkettet, aber nicht raffiniert vertieft oder zugespitzt. Gewiss, ‚Endless Winter‘ liefert eine komplexe Tüftelaufgabe; man kann seinen Highscore in zunächst ungeahnte Höhen treiben – doch Charakter hat das Spiel nicht.“¹

„Fast unendliche Möglichkeiten sich auszutoben“ findet Tim Koch in der Eiszeit von „Endless Winter“. „Worker-Placement, Deckbau, Area-Control, Set-Collection… kaum ein Mechanismus, der nicht vertreten ist“, schreibt er. Für ihn sind das allerdings „manchmal zu viele“ Vorgehensweisen. „Schon die Menge an Material grenzt an Überforderung, im Spiel tatsächlich jede Regel und jede kleine Ausnahme auf dem Schirm zu haben benötigt mehr als nur eine Einstiegsrunde. Selbst erfahrene Spielerinnen haben viel zu überlegen, was gerade in Vollbesetzung für reichlich Leerlauf sorgt.“ Ein oder zwei Elemente weniger, meint Koch, hätten für ihn ein runderes Spiel ergeben. „Insbesondere der vermeintlich wichtige Deckbau ist wenig spannend. Es gibt gerade mal fünf verschiedene Stammesmitglieder, die obendrein alle Punkte bringen. Entsprechend bleiben elegante oder passgenaue Decks ein Wunschtraum, vielmehr wird das Deck punkteträchtig aufgebläht. Auch die anderen Elemente hätten teilweise etwas prägnanter herausgearbeitet, oder alternativ einfach entfernt werden können.“
Dennoch macht Koch das Spiel Spaß. „In jeder Partie kann ich neue Wege einschlagen und neue Ansätze ausprobieren. Tiere jagen, Megalithen errichten oder die Eislandschaft bereisen… überall warten Abenteuer auf mich“, schreibt er. Auch seien die unterschiedlichen Mechanismen „ordentlich miteinander verzahnt“. Das sei eine „enorme Tüftelei“ – die allerdings auch belohnt würde. „Entsprechend begebe ich mich gerne wieder in die endlose Winterlandschaft“, schreibt Koch.²

Auch für Maren Hoffmann gibt es in „Endless Winter“ viel zu tun. „Jetzt schon auf Siegpunkte gehen oder doch die Engine weiter ausbauen? Soll ich meine Lager zu Siedlungen umwandeln, um meine Einkünfte zu verbessern, soll ich endwertungsträchtig die Götzen noch leidenschaftlicher anbeten oder mir doch lieber für meinen Nachziehstapel endlich mal ein paar kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gönnen, damit ich in der nächsten Runde mehr Handlungsspielraum habe? Oder will ich mir Fortschrittskarten besorgen, die mich zum Rundenanfang gleich nach vorn bringen?“ All diese Möglichkeiten jagten „Hardcore-Eurogamern“ einen „wohligen Schauer über den Rücken.“ Dennoch findet sie das Spiel „im Kern fluffig und intuitiv, die vielen Mechaniken greifen gut geschmiert ineinander“, schreibt sie. Es sei „ein echter Eurotraum mit gut geschriebener und übersichtlicher Regel.“ Für sie ist die Materialfülle des Spiels seiner Kickstarter-Herkunft geschuldet. „Wer über die Schwarmfinanzierung Spiele vermarktet, muss den Unterstützern etwas bieten und bei jeder erreichten Zielzwischensumme noch was drauflegen können, um die Dramaturgie steil zu halten.“ Daher gäbe es bereits im Grundspiel schon zwei Zusatzmodule und bereits drei Erweiterungen im Handel. Für Hoffmann einfach Geschmackssache: „Bei Brettspielen gibt es mindestens zwei Fraktionen: Bauhaus und Barock. Die einen freuen sich über schlankes Regelwerk und klare Kanten und ärgern sich über alles, was das Kernspiel verkompliziert und aufrüscht, die anderen verbuchen verspielte Schnörkel als elegant eingefassten Zusatznutzen. Wer Schnickschnack grundsätzlich ablehnt, wird mit ‚Endless Winter‘ sicher nicht glücklich“, schreibt sie. „Wer aber in seinen Latte Macchiato gern noch einen Schuss Sirup gibt und Kakaopulver draufstreut, freut sich über die vielen Extras.“³

¹ Rezensionen für Millionen: Endless Winter
² Spielfreu(n)de: Endless Winter
³ Spielbox 7/22: Ice, Ice, Baby