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„Spielen wir im Team?“

…ist die Frage, die in letzter Zeit nahezu zum Standard gehört, wenn ich mit einer Tasche voller Spiele in Kindergärten oder in die Nachmittagsbetreuung einer Schule komme.

Sogar dieses kleine lokale Spielbiotop spiegelt wieder, dass wir anscheinend gerade eine Renaissance des kooperativen Spielens erleben. Anders als in dessen Gründerzeit, wo die kooperative Spielwelle ihr Vorbild hatte im Bürgerengagement für gesellschaftliche Zielsetzungen und Pädagogen, davon inspiriert, die Kooperation als Unterrichtsmethode und Kooperationsfähigkeit als wichtiges soziales Lernziel entdeckten, fußt der neue Trend auf einem sich in allen gesellschaftlichen Gruppen und Altersstufen verbreitenden Bedürfnis nach gemeinsamer Anstrengung zur Lösung von Problemen, positiv konnotiert mit viel Kommunikation, Spaß und interessanten Gruppenprozessen.

Kooperative Brettspiele für Kinder gibt es seit Ende der 1970er Jahre, deren Geburtshelfer die auf Gruppenkooperation bei Bewegungs-, Koordinations- und Kraftanstrengungsleistungen zielenden New Games Bewegungsspiele waren, die in den 1960er Jahren entstanden. Friedens- und Umweltinitiativen und die von ihnen angestoßenen politischen und pädagogischen Diskussionen präferierten gemeinschaftliches Handeln anstatt Konkurrenz und Einzelkämpfertum. In der Spieleszene wurde nun das Spiel zum eigenständigen Handlungspartner, der gewinnen oder verlieren konnte. Sein Gegner ist das Team der Spieler, bei denen jeder jedem helfen kann und soll. Sieg oder Niederlage werden gemeinsam getragen. Der pädagogische Ansatz des nicht mehr Gegeneinander-, sondern Miteinander-Handelns war der Glaube an die realistische Möglichkeit, dass ein Spiel erzieherische Auswirkungen auf Menschen dahingehend haben kann, sie sozialer und friedfertiger zu machen und umweltbewusster handeln zu lassen.

Der Herder-Verlag, zur Zeit der ersten Ära der neuen Spielidee die Nr. 1 auf diesem Sektor, brachte 1977 mit dem Wundergarten sein erstes kooperatives Spiel für Kinder im Kindergartenalter heraus. Es folgten das Drachenspiel, das Bärenspiel, die Feuerwehr, Corsaro, der Sauerbaum, um nur einige weitere Spiele dieser Kategorie zu nennen. Rainer Knizia, Wolfgang Kramer, Max Kobbert und Hajo Bücken gehörten zu deren bekanntesten Autoren. Habas Obstgarten ist auch nach über 30 Jahren in vielen Kinderzimmern präsent.

Die Jury „Spiel des Jahres“ setzte einige kooperative Spiele auf ihre Auswahl- bzw. Empfehlungsliste oder verlieh sogar Sonderpreise, z.B. für Sauerbaum aus dem Verlag Herder als kooperatives Familienspiel (1988) und 1991 für Corsaro als kooperatives Kinderspiel. Der Sonderpreis war gedacht als Auszeichnung für außergewöhnliche und innovative Spielideen. Die Preise „Kinderspiel des Jahres“ und „Kennerspiel des Jahres“ gab es noch nicht. Als semi-kooperatives Familienspiel Detektive kontra Verbrecher, erhielt 1983 Scotland Yard von Ravensburger den Preis „Spiel des Jahres“.

In allen in den und um die 1980er Jahre(n) herum entstandenen kooperativen Spielen ging es darum, gemeinsam ein Ziel zu erreichen: Blumen pflanzen, vor den Piraten flüchten, der Feuerwehr helfen, das Feuer löschen, dem kleinen Bären aus dem Wald helfen. Würfelwürfe waren entscheidend bei der Erfüllung der Zielvorgaben. Vor dem Eintreffen eines bestimmten, auf das jeweilige Spiel zugeschnittenen Ereignisses musste ein festgelegtes Ziel erreicht werden. Die Spieler sollten lernen, ein Würfelergebnis, das sie selbst nicht nutzen konnten, der gesamten Spielgruppe zur Verfügung zu stellen und an einen Mitspieler zu verschenken, dem eine sinnvolle Verwertung möglich war. Der Würfel stand also als mächtigstes Steuerelement im Zentrum des Spielverlaufs. Kooperative Spiele waren anfangs ungewöhnlich, einige waren sogar richtig spannend. Aber mit der Zeit und mit immer mehr nur kooperativ zu erreichenden Zielen in neuen Spielen wurden viele auch langweilig. Themen wirkten wie um der Grundspielidee willen aufgesetzt bei ewig ähnlichem Spielverlauf. Der pädagogische Zeigefinger bekam Überlänge. Gerade bei den Kreativen und Usern der sich in den 1990er Jahren stark beschleunigt in viele Gesellschafts- und Lebensbereiche vordringenden digitalisierten Anwendungen und Informationstechnologien war das besonders verpönt. Nach und nach sehnte man sich wieder nach „echten“ Konkurrenzspielen, um zu zeigen, dass man taktisch klug auch alleine spielen konnte, ohne unbedingt etwas Gutes tun zu müssen. Gameboys und Spielekonsolen untermauerten diese Individualisierungstendenz und sprachen besonders Geschicklichkeit und Reaktionsvermögen an. Ab Mitte der 1990er-Dekade war vorerst die Zeit der kooperativen Spiele abgelaufen. Da ich mich seit 1984 beruflich mit Brettspielen beschäftige, habe ich diese Entwicklung begleiten können und alle kooperativen Spiele kennengelernt und gespielt.

Diese erwiesen sich aber als Phoenix, zunächst in der Sparte „Familienspiel“. Das Spiel Der Herr der Ringe von Kosmos, das im Jahre 2001 mit dem Sonderpreis Literatur von „Spiel des Jahres“ ausgezeichnet wurde, ist ein stimmiges kooperatives Spiel. Sein Autor Reiner Knizia schaffte es, einem nur von allen Spielern gemeinschaftlich zu gewinnendes oder verlierendes Spiel viel Spannung und hohen Unterhaltungswert zu verleihen – ohne ganz ausdrücklich etwas Gutes tun zu wollen.

Erst im Jahre 2007 zogen die Kinderspiele nach: Bei Ravensburger erschien, wieder von Reiner Knizia, das kooperative Spiel Wer war‘s?, das wie eine Supernova erstrahlte! Es hat eine gute Geschichte, ist spannend, vielseitig mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen und einem Mechanismus, der dafür sorgt, dass jedes Spiel anders ist. Es wurde 2008 preisgekrönt, diesmal als „Kinderspiel des Jahres“. Es folgten eine Reihe guter, interessanter kooperativer Kinderspiele mit den unterschiedlichsten Themen wie Schnappt Hubi! (Ravensburger, Kinderspiel des Jahres 2012) oder Geister, Geister, Schatzsuchmeister (Mattel, Kinderspiel des Jahres 2014), die auch heute immer noch zu den meist gespielten Spielen gehören und dafür sorgen, dass kooperative Spiele wieder salonfähig wurden und bei denen Erwachsene gerne mitspielen. Für Jugendliche und Erwachsene erschien bei Pegasus das kooperative Spiel Pandemie, das 2009 für den Preis “Spiel des Jahres“ nominiert wurde. Jetzt war der 1990er Knoten nicht nur gelockert, sondern geplatzt – auch bei den Kinderspielen: Nach 20 Jahren gab es eine neue Generation kooperativer Spiele für Kinder, Jugendliche und Erwachsene – der Trend hält an. Kooperative Spiele 2.0!

Die Spiele haben sich auch dahin gehend verändert, dass nicht mehr nur das Würfeln entscheidend war, sondern die Mitspieler müssen diskutieren, abwägen und entscheiden. Die Themen der Spiele variieren und spielen wie bei Pandemie manchmal eine mögliche Realität vor oder bewegen sich in der Fantasie, der Zukunft oder in Märchenwelten. In dieses Genre passen auch die Escape Spiele, die jetzt sogar am (Spiel)tisch gespielt werden können. Hier geht es ebenfalls darum, die verschiedenen Fähigkeiten aller Mitspieler zu nutzen, um bestimmte Probleme und Rätsel zu lösen, aber innerhalb einer vorgegebenen Zeit. Das 2013 im Kosmos Verlag erschienene Die Legenden von Andor oder T.I.M.E. Stories (Space Cowboys, 2016) und die Exit-Spiele (Kosmos, 2017) wurden Renner im erwachsenen Spielebereich und von der Jury „Spiel des Jahres“ honoriert. Ganz aktuell: Pandemic Legacy–Season 2 erhält den Sonderpreis der Jury 2018. In der zweiten Generation der kooperativen Spiele muss wirklich ernsthaft gerungen werden. Es kann durchaus passieren, dass das Spiel gewinnt. In den früheren Spielen, abgesehen von wenigen Ausnahmen, war es oft so, dass die Kinder von ihrem Gemeinschaftssieg ausgehen konnten. Das ist selbst für Kinder auf Dauer langweilig.

Die Übertragung und Übersetzung dieser weitgehend von Knizia angestoßenen neuen und im Vergleich mit den kooperativenSpielen 1.0 deutlich weiter gefassten Spezifika auf die Kinderspiele gelang bestens. Klar, es gibt immer Alphatiere beim Spielen, die im Zaum gehalten werden müssen, die allerdings auch ein Spiel weiterbringen, wenn die anderen Spieler allzu zaghaft oder ideenarm reagieren. Das ist bei Kindern genauso.

Sie wollen allerdings eigentlich noch mehr als Erwachsene den Wettkampf (Wer ist der Größte, der Schnellste, der Stärkste…?). Sie wollen als Individuum normalerweise unbedingt bei allen Leistungsvergleichen gewinnen! Dem widerspricht auch nicht, dass den jüngeren Kindern trotzdem oft Tipps und Kommentare herausrutschen. Im kooperativen Spiel verhält es sich anders als in der alltäglichen Realität der Kinder: Sie erleben dort augenscheinlich mehr Spannung, weil ja immer alle betroffen sind, die Euphorie ansteckt und ständig Kommunikation untereinander stattfindet. Sie können sich außerdem einbringen mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten. Sie haben die Möglichkeit zu zeigen, dass sie etwas für die Gemeinschaft und den Spielfortschritt tun und mit für das Erreichen des Spielziels sorgen können. Selbst wenn ein Kind dazu nicht in der Lage ist, besteht dennoch meistens eine emotionale Bindung an die Gruppe mit ihren positiven Fähigkeiten. Die Gefahr der unmittelbaren Sanktionierung von Fehlentscheidungen besteht kaum. Kinder nehmen ein von der Gruppe verlorenes Spiel nicht als persönlichen Misserfolg, während sie einen Sieg durchaus auf ihre individuelle Fahne schreiben. In einer Reihe von kooperativen Spielen kann ein Spielziel auch anspruchsvoller und damit schwieriger gemacht werden, z.B. bei den Kinderspielen Geister, Geister, Schatzsuchmeister oderWer war’s?. Das erweist sich nicht selten als starke Anregung und Herausforderung für Kinder zum Weiterspielen auf höherem Level.

Viele Kinder im Alter von fünf bis acht Jahren bekunden ausdrücklich, dass sie lieber gemeinsam mit Anderen spielen, wobei hinter vorgehaltener Hand häufig die Angst vorm Verlieren und vor offenkundigen Misserfolgen als Grund deutlich wird. Das gilt auch für viele Erwachsene, von denen sich genau wie bei Kindern mehr dazu verlocken lassen zu spielen, wenn Kommunikation und gemeinsames Agieren nicht nur viel mehr Spaß machen, sondern gleichzeitig auch noch das Verlieren entpersonalisiert wird. Es scheint sich in allen Altersgruppen ein allgemeines Bedürfnis nach Verringerung von Leistungszwängen und Erwartungshaltungen sowie Entschleunigung entwickelt zu haben. Es wird nach mehr Zeit gesucht zu Freude bereitender Kommunikation über die vielfältigen, notwendigen und oft anstrengenden Themen des täglichen Lebens hinaus. Bei vielen Menschen scheint die Frustrationstoleranz ausgereizt oder nicht mehr vorhanden zu sein, so dass Erfolgserlebnisse versprechende Spiele mit überschaubarer Aufgabenstellung und erwartbarem Unterhaltungswert zurzeit so erfolgreich sind. Vielleicht begünstigt das Individualisierungstendenzen beschleunigende Internet und die ausufernde anonyme (Pseudo-) Kommunikation in den sozialen Netzwerken sogar die erneute Karriere der kooperativen Spiele. Dazu passt auch, dass der Markt für Brettspiele generell ein gutes Wachstum verzeichnen kann.

Tina Kraft