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Spielerepublik Deutschland: Der Spiel-Film des Jahres

Fast vier Jahre lang hat der Regisseur Hendrik Schmitt Spieleautorinnen und -autoren begleitet, um dem Phänomen der sogenannten „German Games“ auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis ist die 90-minütige Dokumentation „Spielerepublik Deutschland“, die auch Einblicke in die Geschichte und die Arbeit der Spiel-des-Jahres-Jury bietet.

➜ ARD-MEDIATHEK: „Spielerepublik Deutschland“

Uwe Rosenberg eilt, die Familie im Schlepptau, über den Vorplatz zum Kasseler Hauptbahnhof. Es ist kalt. Rosenberg trägt keine Jacke, aber ein Spiel unter dem Arm, „Atiwa“, eine seiner jüngeren Schöpfungen. Sein Ziel ist das Bali-Kino im Bahnhof, der – nicht zu verwechseln mit der Betontrutzburg Kassel-Wilhelmshöhe – ein Kulturbahnhof ist. Hier wird an diesem Samstagvormittag eine ganz besondere Form von Kultur präsentiert: Spielkultur. Im Rahmen des Dokfests, dem Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest, wird „Spielerepublik Deutschland“ gezeigt.

Moderator David Zabel (links) und Regisseur Hendrik Schmitt

Es geht, so nennt es Moderator David Zabel, um „die schönste Sache der Welt“: Gesellschaftsspiele. Regisseur Hendrik Schmitt geht eineinhalb Stunden lang der Frage auf den Grund, wie die sogenannten „German Games“ zu einem weltweiten Exportschlager werden sollten. Und er tut es vor allem, indem er sich an die Fersen von Autoren wie Rosenberg heftet. Er zeigt, wie Familie Loth aus dem Emsland, das Team hinter Mogel-Spiele, und Frohnatur Rita Modl neue Titel zur Marktreife bringen, wie Modl mit ihrem Redakteur noch an den kleinsten Details der Schachtelillustration von „Zwergendorf“ feilt und die Loths zwischen Lagerfeuer und Familientisch für Kosmos an „My Gold Mine“ tüfteln – und wie sie im Jahr 2022 bangen und schließlich jubeln, als die Jury Spiel des Jahres Long List und Short List bekanntgibt: „My Gold Mine“ landete auf der Empfehlungsliste.

Gerrit, Jürgen und Michael Loth mit Jörne Koldehoff beim Besprechen ihres Prototypen von „My Gold Mine“

„Man kann die Geschichte der German Games nicht ohne das Spiel des Jahres erzählen“, sagt Regisseur Schmitt beim Gespräch im Foyer, das sich allmählich füllt. „Was dieser Verein, der bis heute kein Geld verdient, leistet, ist einmalig.“ Und so traf er auch Gründungsmitglied Jürgen Herz, der bei einem Kamingespräch unter Spielekritikerkollegen die Idee der Auszeichnung skizzierte. Seine Recherche zur Bedeutung des Preises führte bis in die USA, wo man ganz selbstverständlich vom „Spiel des Jahres“ radebrecht und nicht vom „Game of the Year“, wo Schmitt den Spielefan und Techmagnaten Reid Hoffman traf, Gründer von LinkedIn und Paypal, und einen Spieleladen besuchte, wo prompt ein Verkäufer seine „Lieblingsecke“ zeigt: die mit den Spielen Uwe Rosenbergs.

Schmitt besuchte die Jury bei ihrer Klausurtagung zu den Preisträgern 2022, bei der Abstimmung zwei Monate später und bei der Preisverleihung. Er ging mit auf Brettspiel-Kreuzfahrt gen Island und stürzte sich in das Getümmel der Messe in Essen. Immer ganz nah dran und doch auch mit dokumentierender Distanz. Zwei Jahre sollte der Dreh dauern. Es wurden – auch wegen Corona – beinahe vier daraus.

Inka und Markus Brand am Esstisch

„Mein Hauptanliegen war es, dass man die Menschen hinter den Spielen kennenlernt“, sagt Schmitt. Daher zog er sich auf den Posten des Beobachters zurück und lässt vor allem seine Protagonisten zu Wort kommen. Die emotionale Bandbreite des Films ist enorm. Inka und Markus Brand, die Erfinder von „Exit“, bilden sehr sympathisch und mit fröhlichen Frotzeleien den heiteren Rahmen. Anrührendes Zentrum sind die Begegnungen mit Klaus Teuber, dem im April verstorbenen Autoren von „Catan“. Sie zeigen in großer Nähe die stille Größe des bescheidenen Superstars der Spieleszene. Die metaphorische Bildsprache passt, wenn Teuber auf dem Feldweg zwischen den Getreidefeldern spaziert wie auf einem Catan-Spielplan.

Klaus Teuber beim Wandern

Historische Aufnahmen, nicht selten von unfreiwilliger Komik, runden den Film ab. Wenn etwa Werner Schöppner, der Autor von „Malefiz“, in einer Fernsehsendung freimütig von der Entstehungsgeschichte erzählt: Ihn habe auf dem Klo der Blitz getroffen. Und der Moderator eilig souffliert: „Ein Geistesblitz.“

Ein Geistesblitz liegt auch dem Film zugrunde: Die Idee kam Schmitt, als er daheim auf seine bescheidene Spielesammlung blickte. „Catan“, „Risiko“, ein paar andere Klassiker, keine zehn Stück. „Ich habe mich gefragt, wer die Autoren sind.“ Anfangs habe er die ganze mehrtausendjährige Geschichte des Spiels erzählen wollen. Schnell wurde klar, dass das jeden Rahmen sprengen würde.

Ein Anfang ist gemacht. Und es wird auch so deutlich, dass ein Spiel immer über die Partie als solche hinausweist. Für Dokfest-Moderator Zabel ist „Spielerepublik Deutschland“ der „Spiel-Film des Jahres“. Er ist sicher: „Spiele habe das Potenzial irgendwann die Welt zu retten.“ Weil sie zeigen, wie man friedlich in Konkurrenz zueinander tritt.

Hendrik Schmitt und Uwe Rosenberg mit dem Filmplakat „Spielerepublik Deutschland“

Rosenbergs Kinder, auch das zeigt der Film, haben übrigens erst während des Drehs realisiert, dass ihr Vater nicht etwa nur einem seltsamen Hobby nachgeht, sondern in der Spieleszene ein Weltstar ist. Nach Ende des Films stehen sie mit dem Drehteam und anderen Gästen vor der Leinwand und nesteln an ihrer Kleidung, schüchtern, sichtlich stolz auf ihren Vater und auch ein bisschen ehrfürchtig. „Spielerepublik Deutschland“ öffnet Augen: nicht zuletzt auf die schönste Sache der Welt.

Stefan Gohlisch

➜ „Spielerepublik Deutschland“ wird am Mittwoch, 6. Dezember, ab 22:45 Uhr im BR Fernsehen ausgestrahlt und ist bereits jetzt in der ARD Mediathek zu sehen.

Kritikenrundschau: Schnitzeljagd – Fressen ist Glückssache

Wie das eben so ist: Mal ist man Jäger, mal wird man gejagt. Und mal beides gleichzeitig. In „Schnitzeljagd“ (Brett J. Gilbert und Matthew Dunstan bei Edition Spielwiese und Pegasus Spiele) geht es zu wie in einer besonders dramatischen Naturdokumentation. Unsere Jurymitglieder haben in ihren jeweiligen Medien Kontakt zu ihrem inneren Raubtier gesucht und versucht, in der leuchtend-bunten Neonnatur zu überleben.

„Bär, Wolf, Luchs, Eule und Maus – wir alle starten mit dem gleichen Set aus fünf Tieren“, erklärt Karsten Grosser das Spiel. „Beginnt die Jagd, entscheidet sich jeder geheim für eine Karte. Je kleiner das Tier, desto mehr Fressfeinde hat es. Der große Bär indes hat nichts zu befürchten. Nun decken wir alle unsere Karte auf und warten ab, was passiert. Nacheinander werden die Tiere entsprechend der Nahrungskette aufgerufen – und aufgedeckt. Haben mehrere von uns das gleiche Tier ausgewählt, geschieht nichts. Kommt jedoch ein Tier als einzelner Jäger daher, darf es fressen. Es hat freie Auswahl unter den Tieren, die unter ihm in der Nahrungskette stehen. Es entscheidet aber, ohne vorab die noch verdeckten Karten zu kennen. Wer gefressen wird, scheidet aus. Zumindest für diese Jagd.“

Grosser nennt „Schnitzeljagd“ ein „lineares ‚Stein, Schere, Papier‘“, in dem schnell der „Ich denke, dass du denkst, dass ich denke“-Effekt eintrete. „Bluffen gehört natürlich auch dazu“, schreibt er. Das Spiel zeichne sich durch „schnelle Entscheidungen, aufs Bauchgefühl hören, schnelles Abhandeln, Emotionen freisetzen“ aus. „Ich ärgere mich, weil mein Bär schon wieder nicht allein bleibt. Ich hoffe, dass der Wolf sich für die falsche Beute entscheidet. Ich jubele, weil der Luchs alle Eulen frisst, aber nicht meine Maus. Ich fluche, weil es mich schon wieder erwischt hat.“ „Schnitzeljagd“ ist für Grosser „Spaß im Schnelldurchlauf“. Allerdings, merkt er an, sollten mindestens drei Personen mitspielen. „Besser zu viert oder zu fünft. Zu zweit floppt das Spiel indes; dann ist es schlichtweg langweilig“, schreibt Karsten Grosser. Grundsätzlich gebe es bei „Schnitzeljagd“ einen sehr hohen Glücksfaktor. Mitunter sei die Wahl der Karte schlicht egal. „Aber ‚Schnitzeljagd‘ lebt von den Momenten, vor den Entscheidungen. Wenn ich in den Augen meiner Mitspieler lese. Wenn ich versuche, sie mit Sprüchen zu verunsichern.“ Insgesamt gefällt Grosser „Schnitzeljagd“ – in seiner Rezension hat er auch ein Lob für die ungewöhnliche Neongrafik des Spiels übrig.¹

Für Tim Koch ist „Schnitzeljagd“ „ein Hauch Pokern, ein wenig ‚Ich denke, dass du denkst‘, eine ordentliche Prise Glück und natürlich ganz viel Emotion.“ Es gebe eigentlich nicht viel zu Grübeln. „Und doch ertappt man sich selbst immer wieder dabei, zu versuchen, in die Gedankengänge des Gegenübers einzudringen. Und genau das macht den Reiz aus“, schreibt er. Das Spiel sorgt bei Koch „immer wieder und fast garantiert für Lacher“. Dennoch bleibe das Gefühl, alles schon mal gesehen zu haben. „Vergleichbare Spiele gibt es zur Genüge, ‚Schnitzeljagd‘ punktet allenfalls mit der wirklich sehr vereinfachten Herangehensweise“, meint er und findet auch einen großen Glücksanteil in der Spielmechanik. „Spätestens beim nächsten großen Lacher ist es aber eigentlich egal, ob das jetzt Zufall war. Und im Zweifel ist es immerhin eine gute Ausrede, wenn die eigene Jagd mal wieder vollkommen misslungen ist.“ Die Grafik allerdings findet Koch „fürchterlich“, erkennt aber auch an, dass sie das Spiel aus der Masse ähnlicher Spiele hervorhebt.²

Maren Hoffmann findet: „Selten kam ein Ich-denke-was-du-denkst-was-ich-denke-Spiel in so prägnantem Design daher.“ Für sie ist das Spiel „ein Fest in grellen Neonfarben und macht auf dem Tisch ordentlich was her.“ Sie erlebt es als „ein dauerndes Schätzen, Bluffen und Schadenfreuen, ein schönes, bildstarkes Spiel für eine kleine Pausen- oder Abendrunde.“ Auch sie empfiehlt das Spiel erst ab drei Spieler:innen. „Sonst wird das Bluff-Feuerwerk zum Rohrkrepierer.“³

„Es ist alles so schreiend“, beschreibt Martina Fuchs die Farbgebung von „Schnitzeljagd“. Sie wird damit nicht warm: „Eigentlich fühlt sich das Spiel so an, dass ich mir ganz viel merken muss“, sagt sie. Aber: Zweimal sei es passiert, dass jemand gewonnen hat, der zufällig Karten gezogen hat. „Einfach weil er keine Lust auf dieses Spiel hatte.“ Für Fuchs ist ein weiterer Kritikpunkt, dass schon in der ersten Runde Spieler:innen rausfliegen, „und dann sitze ich fünf Minuten da und warte, bis die anderen fertig sind. Und wenn ich Pech habe, passiert mir das nochmal“, sagt Fuchs. „Ich fühle mich bei dem Spiel nicht gut, egal ob ich verliere oder gewinne.“ Das Spiel habe zwar seine Liebhaber, sie ist sich aber nicht sicher, für wen das Spiel eigentlich gemacht sei.

Auch Julia Zerlik fällt an „Schnitzeljagd“ zunächst das Design auf. „Am Anfang habe ich gedacht: Herrjemine, was ist das? Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und sogar ein wenig Freude daran gefunden.“ Man könne sofort losspielen, denn das Kartenspiel habe sehr „reduzierte“ Regeln. „Ich habe in jeder Runde Leute gefunden, die das richtig toll finden, ich habe aber auch Leute gefunden, die das überhaupt nicht mögen.“ Um Spaß zu haben, müsse man affin für Bluffspiele sein. Dass Spieler:innen vorzeitig ausscheiden, findet sie nicht so schlimm, das dies immer nur für einen kurzen Moment ist. Für Zerlik funktioniert „Schnitzeljagd“ am besten als „Absacker“ am Ende des Spieleabends oder zu Beginn zum Einspielen. Sie empfielt es für vier oder fünf Spieler:innen, „dann sind mehr verschiedene Tiere im Pott“. Mit den richtigen Leuten sei es „eine runde Sache“.

Tobias Franke findet zum Design: „Dabei habe auch ich feststellen müssen, dass sich die besonderen Neon-Farben nicht in Fotos einfangen lassen – man muss schon die Schachtel oder noch besser die dicken Karten in die Hand nehmen, um das besonderes Aussehen auf sich wirken zu lassen.“  Für ihn ist „Schnitzeljagd“ „ein ständiges Belauern mit ganz viel Table Talk.“ Am besten spiele es sich in größeren Gruppen, schreibt er. „Dann passiert dauernd was am Tisch und die Durchgänge bleiben interessant, auch wenn vielleicht schon die ein oder andere Person rausgeflogen ist – was übrigens aufgrund der Schnelligkeit des Spiels kein Problem darstellt.“ Für zwei Personen findet er es ungeeignet und kritisiert die entsprechende Angabe auf der Box. Generell gefällt Franke das Spiel – vor allem wegen der Emotionen am Tisch.

¹ Spielfreu(n)de: Schnitzeljagd
² Spielekenner: Schnitzeljagd
³ Spiegel: Schnell aufgetischt – neue Kartenspiele im Test
Fux & Bär: Ein Spiel für dich? Von Weimar nach Essen – Folge 33
Spiel doch mal…: Schnitzeljagd
Fjelfras.de: Speed-Dating: Schnitzeljagd, 5 Towers, Trio und Cabanga!

Podcast Folge 39: Essener Geschichte(n)

In dieser Folge unseres Podcast gibt es einen Ausschnitt aus einem Vortrag des Historikers und Spielewissenschaftlers Lukas Boch zur Geschichte der SPIEL, den er auf der Messe im Rahmen eines Panels zum Jubiläum gehalten hat.  Außerdem sprechen wir mit Spiel-des-Jahres-Gründungsmitglied Jürgen Herz, der bei den ersten Spielertagen dabei war – und nicht ganz unschuldig daran, dass die SPIEL in Essen stattfindet. Zum Abschluss gibt es noch ein Gespräch mit der Geschäftsführerin Carol Rapp, die 2023 ihre erste SPIEL organisiert hat, über Gegenwart und Zukunft der Messe.

Folge 39: Essener Geschichte(n)

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In diesem Jahr feierte die SPIEL in Essen 40-jähriges Jubiläum. Von den Anfängen 1983 als Deutsche Spielertage in den Gängen einer Volkshochschule mit 2000 Besucher:innen bis zur weltgrößten Spielemesse mit gut 200.000 Besucher:innen ist selbstverständlich einiges passiert. Wir haben das Jubiläum zum Anlass genommen, um einmal ein wenig die Geschichte der Messe zu beleuchten – und ihre, zumindest anfänglich, engen Verbindung zum Spiel des Jahres e.V.

Der Stand des Spiel des Jahres e.V. in Essen 2023

In dieser Folge unseres Podcast gibt es einen Ausschnitt aus einem Vortrag des Historikers und Spielewissenschaftlers Lukas Boch zur Geschichte der SPIEL, den er auf der Messe im Rahmen eines Panels zum Jubiläum gehalten hat. Der komplette Vortrag kann auf ➔ Youtube angesehen werden. Außerdem sprechen wir mit Spiel-des-Jahres-Gründungsmitglied Jürgen Herz, der bei den ersten Spielertagen dabei war – und nicht ganz unschuldig daran, dass die SPIEL in Essen stattfindet.
Zum Abschluss gibt es noch ein Gespräch mit der Geschäftsführerin Carol Rapp, die 2023 ihre erste SPIEL organisiert hat, über Gegenwart und Zukunft der Messe.

Großer Andrang auf der Spielemesse 2023

Kritikenrundschau: Turing Machine – Deduktionsprogramm

Fünf Ziffern, richtig oder falsch – und fertig ist das Deduktionsspiel. Aber ganz so einfach ist es dann mit „Turing Machine“ (Fabien Gridel und Yoann Levet bei Huch und Scorpion Masqué) dann doch nicht. Denn ein wenig Wettbewerb und vielleicht sogar Glück gehören auch dazu. Unsere Jurymitglieder haben sich in ihren jeweiligen Medien an den analogen Computer gesetzt und die Denkerkappen angelegt.

„Wir suchen einen dreistelligen Code mit Ziffern von eins bis fünf“, erklärt Udo Bartsch das Spiel. „Wer die wenigsten Spielrunden benötigt, um diesen Code zu finden, gewinnt. Wer als Lösung einen falschen Code probiert, scheidet aus. Statt auf eine App setzt ‚Turing Machine‘ auf viele Karten, darunter auch Lochkarten. Eine Aufgabenstellung entnimmt man der Anleitung (dort sind zwanzig Vorschläge) oder dem Internet (dort sind viel, viel mehr). Bevor es dann losgehen kann, müssen diverse Karten herausgesucht und kreisförmig angeordnet werden. Hinterher muss man das alles wieder wohlgeordnet wegpacken.“
„Turing Machine“ erfordert Akkuratesse, stellt Bartsch fest. „Auch im Geist. Die Aufgaben lassen sich durch Testen und ansonsten durch Logik lösen.“ Zwar sei ein bisschen Glück dabei – viel mehr aber eben Logik. „Man muss nicht alles durchprobieren, manches lässt sich durch reines Nachdenken ausschließen, insbesondere wenn man weiß, dass jeder der angebotenen Tests für die Lösung nötig ist. Schon aus der Versuchsanordnung lässt sich etwas ableiten. Jedenfalls gelingt dies denjenigen Spieler:innen, die die entsprechende Denke mitbringen. Andere bleiben auf der Ebene des Herumprobierens.“ Für Bartsch ist der Wettbewerb dabei nicht zentral. „Der von mir empfundene Spielreiz speist sich mehr aus der komplexen geistigen Beschäftigung und (hoffentlich) dem belohnenden Gefühl am Schluss, den Code gefunden zu haben – selbst wenn andere schneller waren. Dennoch tut der Wettbewerbs-Charakter dem Spiel gut, denn er zwingt mich zu diszipliniertem Spiel: nicht so viel herumprobieren, mehr nachdenken.“
Bartsch findet das Spiel „außergewöhnlich und sehr speziell. So speziell, dass einige meiner Mitspieler:innen laut gelacht haben, als ich ihnen die Regeln der beiden Ausbaustufen präsentierte. Wenn man die zum ersten Mal hört, denkt man, eine Lösung sei unter diesen Umständen gar nicht mehr möglich. Ist sie dann aber doch und sogar in weniger Schritten als angenommen.“ Allerdings hätte nicht jeder einen Zugang zu „Turing Machine“. „Für mein Empfinden fehlt der Kopfarbeit in ‚Turing Machine‘ das Spielerische. Ich empfinde Respekt und Faszination, aber keinen so großen Spielreiz“, lautet sein Fazit.¹

Tobias Franke freut sich über die Ausstattung des Spieles. „Die Lochkarten üben einen immensen Drang aus, sie in die Hand nehmen zu wollen“, sagt er. „Turing Machine“ sei allerdings im Kern ein Solospiel. „Ob neben mir nun zwei, drei oder theoretisch 500 andere ebenfalls Prüfungen durchführen, hat auf mich überhaupt keinen spielerischen Einfluss. Alle bosseln alleine vor sich hin und irgendwann wird dann versucht zu lösen. Bis dahin sind mir meine Mitspielenden im Grund egal.“ Außerdem bemängelt Franke die oft schwer zu verstehende Symbolsprache sowie der manchmal verwirrende Aufbau. „Vor allem bei den leichten Schwierigskeitsstufen hatte ich im Solo-Spiel das Gefühl, dass ich länger mit dem Aufbau als mit dem Lösen des Codes beschäftigt war – begleitet von dem ketzerischen Gedanken, ob es nicht besser wäre, das Spiel direkt als digitale Aufgabe vorliegen zu haben. Der Gag, über die Karten Informationen zu erhalten, verpufft schnell, wenn ich zusehends von der Handhabung genervt bin und dauernd Verwaltungsaufgaben durchführen muss.“
Für Franke ist auch die Glückskomponente deutlich zu hoch. „Es muss nicht unbedingt ein Leistungsgefälle im Denken vorliegen, wenn eine Person fünf Versuche und eine andere zehn Versuche benötigt. Das liegt in gewisser Weise in der Natur der Dinge bei Deduktionsspielen. Aber weil bei ‚Turing Machine‘ keine Informationen öffentlich werden, fühlt sich der Weg zum Ziel zufälliger an als bei anderen Spielen.“
Am Ende aber ist Franke von dem Spiel doch fasziniert – von den Lochkarten, vom Aufwand, der „wohl hinter der Erfindung der einzelnen Aufgaben stecken muss“. Ihn reizen an dem Spiel die Aufgaben – „das ändert aber nichts daran, dass in meinen Augen eine digitale Umsetzung als Solo-Spiel für diese Aufgabenstellung der geeignetere Weg wäre. Es gibt schon Gründe, warum ein Computer digital ist. ‚Turing Machine‘ fehlt leider ein Element, was dazu einlädt, es gemeinsam als Gruppe spielen zu wollen, wofür sich analoge Treffen bestens eignen. So ist es zwar ein tolles Produktdesign, aber kein überzeugendes Spiel“, lautet sein Fazit.²

Auch Julia Zerlik empfindet „Turing Machine“ mehr als Soloaufgabe. Ihr größter Kritikpunkt ist allerdings, dass einige der Karten schlecht erklärt seien, gerade in den höheren Schwierigkeitsgraden. „Die niedrigen Level waren so, dass man es ungefähr gleich schnell rausgekriegt hat, das hat dann den Reiz schnell verloren“, sagt sie. In den höheren Leveln sei die schlechte Erklärung der Karten für sie „frustrierend“ gewesen. Am Ende seien bei ihr Fragen offengeblieben – trotz einer großen Liebe sowohl für Mathematik als auch Deduktionsspiele. „Das finde ich schade, ich mag eigentlich solche Knobelaufgaben“, sagt Zerlik. Sie hätte sich auf das Spiel gefreut – sei aber am Ende nicht damit warm geworden.³

Michaela Poignée findet die Anleitung „gut geschrieben, gut bebildert“. Dennoch findet sie, wie auch Julia Zerlik: „Bei den Prüfkarten wäre es schön gewesen, wenn nochmal ein Beispiel dabei gewesen wäre“ – allein, weil die Aufgaben schnell komplexer würden. Poignée findet, dass sich „Turing Machine“ sehr solitär sipiel, was für sie dem Spielreiz jedoch keinen Abbruch tut. „Letztendlich ist es ein Logikpuzzle.“ Dank der unterschiedlichen Schwierigkeitsgerade könne man es mit jedem und jeder spielen. Für Poignée ist das Spiel „eine schöne Idee mit schöner Umsetzung“ und Wiederspielreiz.

„Turing Machine“ sei „Deduktion in Reinform“, findet Martina Fuchs. „Wie bei so vielen Deduktionsspielen stehe ich davor und frage mich: Wie soll ich das denn jetzt schaffen? Es war wirklich so, dass Leute in der zweiten Runde den Code bereits hatten, und ich hatte erst eine Zahl raus.“ Aber für Fuchs stellte sich beim Spielen dennoch ein „cooles Computerlochkartengefühl“ ein. Aber auch sie findet, dass „Turing Machine“ eher ein Solospiel ist. „Ob das jetzt wirklich ein Spiel ist, das sich über viele Runden hält? Weiß ich nicht. Es ist auf jeden Fall ein Spiel für alle Menschen, die Deduktion gerne mögen und das so ganz reduziert haben wollen.“ Das Spiel sei „Gehirnjogging für die tägliche Rätselaufgabe“.

Nico Wagner und Stephan Kessler haben sich für ihre mathematischen Überlegungen zusammengesetzt. Vom Gefühl her sei „Turing Machine“ wie eine Sudoku-Aufgabe, meint Wagner. „Ich weiß nicht, wofür ich am Tisch andere Mitspielende bräuchte.“ Gleichwohl findet er das Spiel „sauinteressant“, denn es übe einen großen Reiz auf ihn aus.
Bei Kessler dagegen „zündet das Spiel überhaupt nicht“. Trotz des „intelligenten Auswertungsmechanismus“ habe das Spiel selbst nichts Besonderes. Er habe es mit Mathematikern und Informatikern gespielt, die darüber viel diskutiert haben. „Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich bin in einer Mathe-Vorlesung. Der Reiz besteht aus den Lochkarten, aber nicht darin, was spielerisch passiert.“

¹ Rezensionen für Millionen: Turing Machine
² Fjelfras: Kritisch gespielt: Turing Machine
³ Spiel doch mal…: Frisch vom Tisch Vol 59
Die Brettspieltester: Turing Machine
Fuchs & Bär: Ein Spiel für dich? Herst 2022 – Folge 32
Brettagoge #211

Kritikenrundschau: Heiße Hexenkessel – zackig Zutaten zusammenschütten

Alliterationen sind Poesie im Vorbeigehen – passt also sehr gut zu „Heiße Hexenkessel“ (Erik Andersson Sundén bei Leichtkraft und AEG). Denn auch hier gehen die Partien schnell vorbei. Was ja nicht unbedingt schlecht sein muss. Unsere Jurymitglieder haben in ihren jeweiligen Medien die Zauberhüte aufgesetzt, die Kessel angefeuert und dabei versucht, sich in Hexengestalt gegenseitig zu ärgern.

„Runde für Runde draften wir aus einigen Karten ein neues Rezept, das die eigene Auslage ergänzt“, erklärt Tim Koch das Spiel. „Die Rezepte erlauben uns, Zutaten von unserer Werkbank umzuwandeln und in den Kessel zu legen. So nehmen wir etwa einen Pilz und zwei Spinnen und machen daraus eine Alraune und drei Kröten. Das treibt nicht nur die Naturwissenschaftlerin in uns in den Wahnsinn, sondern hoffentlich auch die Mitspielerin zur Rechten. Denn genau dahin wandert der Kessel mit unserem Brauergebnis. Die erhaltenen Zutaten müssen nun auf der Werkbank untergebracht werden, wofür allerdings nur begrenzt Plätze verfügbar sind. Ist das nicht möglich, werden überschüssige Zutaten zu Siegpunkten, bei deren fünf der Sieger feststeht. Da wir gleichzeitig aber auch immer von links einen gefüllten Kessel bekommen, muss stets zwischen der Leerung der eigenen Werkbank und der Chance auf Punkte abgewogen werden.“
Die Regeln seien angenehm schlank, findet Koch. „Wer mit dem Draften von Karten und dem Bau einer Engine vertraut ist, der findet sich in ‚Heiße Hexenkessel‘ schnell zurecht.“ Auch für das Material hat Koch lobende Worte übrig. „Dass in diesem Kessel auch spielerisch einiges steckt, das fällt erst nach ein paar Runden auf“, schreibt er. „Anfänglich versucht man zumeist, die Mitspieler gezielt mit einzelnen Farbwürfeln zu fluten und jedes mögliche Rezept auszulösen. Erfahrene Spieler hungern die Konkurrenz dagegen aus oder horten Würfel, um in den Folgerunden mehr Möglichkeiten zu haben. Zusammen mit dem ständigen Abwägen zwischen dem Schutz der eigenen Werkbank und dem Drang zu punkten ergibt sich hier ein ganz besonderer Reiz.“ Frustrierend sei hier nur manchmal der Glücksfaktor, der mit dem Ziehen der Karten einher geht. „Selbst das Drafting kann manchmal nicht verhindern, dass einfach nichts zusammenpasst. Gerade solche Partien fallen dann auch häufig kurz aus, wirklich Einfluss hat man in diesen Momenten nicht“, schreibt Tim Koch. Dennoch, urteilt er, sei „Heiße Hexenkessel“ „ein emotionales Kochduell, das allerdings etwas Übung benötigt, um wirklich zu zünden.“¹

Auch für Nico Wagner ist „Heiße Hexenkessel“ kein bloßes „Holzklötzchengetausche“. Die Herausforderung sei, eine „Engine“ so aufzubauen, „dass man zum Einen die Person rechts von sich zumüllt, gleichzeitig aber Rezepte dafür verwendet, um das, was man selber von links bekommt, wegzuwirtschaften“, sagt er. Für Wagner ist das eine „ganz witzige Aufgabe“.
Allerdings gibt es für Wagner auch ein paar Kritikpunkte. Einerseits die Sonderzauber, die mit Hilfe einer Zählleiste mit Pappmarkern aufgeladen werden müssen – was viele der Spielerinnen und Spieler oft vergäßen. „Das ist etwas mickrig gemacht“, sagt er. Am meisten stört ihn allerdings, dass die Spieldauer oft sehr kurz ist. Bis er merke, dass von links viel wegzuschaffendes Blau kommt, könne er gar nicht mehr mit genug Rezepten reagieren. Man müsse sich also entscheiden: „Arbeite ich sehr defensiv oder arbeite ich sehr aggressiv?“ Umschwenken sie nicht möglich. „Es fühlt sich an, als sei aggressiv zu spielen die Hauptdominanzstrategie.“ Dadurch liefen die Partien sehr ähnlich ab. Wer es weniger oft gespielt hat, sei stark im Nachteil. Gleichwohl urteilt Nico Wagner: „Macht alles Spaß, gefällt mir sehr gut.“ Empfehlen würde er es eher für Runden von vier oder fünf Spieler:innen.²

„Heiße Hexenkessel“ ist für Michaela Poignée „ein Familienspiel, das man auch mit Gelegenheitsspielern gut spielen kann“. Es sei gut erklärbar, und in ihren Runden sei es selten bei nur einer Partie geblieben. Poignée kritisiert ebenfalls, dass das Aufladen der Sonderzauber oft vergessen werde. Der Glücksfaktor beim Kartenziehen allerdings störe sie nicht so sehr, „weil das Spiel so schön kurzweilig ist“. Sie attestiert „Heiße Hexenkessel“ einen „hohen Wiederspielwert“, sowohl zu zweit als auch in größeren Runden. Gerade die fortgeschrittenen Hexen, die unterschiedliche Sonderfähigkeiten haben, haben es ihr angetan.³

Julia Zerlik mag das Spielprinzip, weil es so interaktiv ist. „Alle spielen gleichzeitig, es entsteht eine gewisse Spannung, man muss gut nach rechts und links gucken und die Downtime ist sehr gering.“ Ihr gefällt „Heiße Hexenkessel“ „zu dritt am besten, weil da jeder mit jedem interagiert. Aber vom Spielfluss wird es nicht länger, wenn man zu fünft spielt.“ Allerdings sei es wichtig, dass alle ungefähr auf dem gleichen Niveau spielten. „Wenn mein linker Mitspieler ein geübterer Spieler ist, habe ich pauschal schlechtere Chancen“, sagt Zerlik. „Am besten ist das Spiel in Runden, wo alle das Spiel gut kennen.“ Dann allerdings könne man eine überraschende Vielzahl an Strategien entwickeln. „Ich finde es sehr schlau, dass das Spiel so vielschichtig ist“, sagt sie, auch wenn die aufladbaren Sonderfähigkeiten für sie eine Ebene ins Spiel brächten, die es gar nicht gebraucht hätte. Denn sie seien erklär-intensiv und würden, wegen der Kürze des Spiels, eher selten genutzt. Abschließend urteilt Julia Zerlik über „Heiße Hexenkessel“: „Frisches Spielkonzept, das mir immer wieder Spaß macht.“

Martina Fuchs sagt in ihrer Kurzkritik, dass „Heiße Hexenkessel“ ein Spiel im „mittleren bis oberen Familienbereich“ sei. „Es hat einen unheimlich hohen Glücksanteil, je nachdem, wie gut die Spielerin rechts oder links von mir spielt.“ Die Spieldauer sei kurz, und sie habe gerne mehr Zeit. „Ich versuche, eine Engine aufzubauen“, doch bevor sie glaubt, sie habe eine „super Engine“ geschaffen, ist das Spiel schon vorbei. „Heiße Hexenkessel“ sei ein „kleines, schnelles Ärgerspiel mit schöner Haptik“, so Fuchs.

Maren Hoffmann findet  „Heiße Hexenkessel“ „eine perfide Spielidee: Wir brauchen Zutaten, um Hexentränke herzustellen – aber zu viele Zutaten kosten uns den Sieg.“ Das Spiel sei „ein stetes Abwägen zwischen Gönnen, Gier und Gemeinheit.“  Dennoch zeigt Hoffmann sich am Ende begeistert, für sie ist das Spiel „ein turbulenter und kurzweiliger Spaß mit überraschenden Wendungen.“

Für Manuel Fritsch bricht „Heiße Hexenkessel“ „in vielerlei Hinsicht mit den Erwartungen. Statt wie so oft mit knappen Ressourcen und starken Limitierungen klarkommen zu müssen, gibt es dieses Mal Ressourcen im Überfluss. Noch dazu geschenkt!“ Im Spiel gelte es, zwischen Angriff und Defensive abzuwägen – was allerdings nicht immer gelänge. Fritsch findet „Heiße Hexenkessel“ „Ein geselliges und emotionales Ressourcen-Umwandel-Drafting-Ärgerspiel, bei dem das Verlieren wirklich wurmt, aber aufgrund der kurzen Spieldauer von rund 15 bis 20 Minuten eher eine direkte Revanche heraufbeschwört.“ Und dann gerne auch mit neu verteilten Plätzen am Spieltisch, „denn die verhasste Nebenhexe von links will man in der nächsten Partie natürlich ordentlich mit Kröten und Spinnen überschütten.“

¹ Spielfreu(n)de: Heiße Hexenkessel
² Brettagoge #216
³ Die Brettspieltester: Heiße Hexenkessel
Spiel doch mal…: Heiße Hexenkessel
Fuchs & Bär: Ein Spiel für dich? Von Weimar nach Essen
SPIEGEL: Konkurrenz ohne Kampf
⁷ Spielbox 6/23

Das spielerische Quartett: Schrapers, Franke, Bartsch und Balkenhol

Harald Schrapers, Tobias Franke und Udo Bartsch sprechen mit Gastkritikerin Nicola Balkenhol über „Ghost Writer“ von Mary Flanagan und Max Seidmann (Pegasus Spiele), „Sides“ von Cédrick Caumont und François Romain (Captain Games), „Mycelia“ von Daniel Greiner (Ravensburger) und „Die Gilde der fahrenden Händler“ von Matthew Dunstan und Brett J. Gilbert (Skellig Games und AEG). Balkenhol arbeitet als Hörfunkjournalistin beim Deutschlandradio und schreibt als Spielekritikerin für die Spielbox.

Folge 38: Das spielerische Quartett #19

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Zum ersten Mal in diesem Jahrgang – und schon zum neunzehnten Mal in unserem Podcast: Im spielerischen Quartett gibt es wieder vier Neuheiten für euch, besprochen von drei Jurymitgliedern und einer Gastkritikerin.

Als Moderator führt der Juryvorsitzenden Harald Schrapers durch die Folge. Aus der Jury Spiel des Jahres sind Tobias Franke und Udo Bartsch dabei. Als Gastkritikerin macht die Hörfunkjournalistin Nicola Balkenhol mit, die als Leiterin Multimedia beim Deutschlandradio arbeitet. Bereits seit sehr vielen Jahren schreibt sie Spielekritiken für das Fachmagazin Spielbox.

Besprochen werden „Ghost Writer“ von Mary Flanagan und Max Seidmann, erschienen bei Pegasus Spiele, „Sides“ von Cédrick Caumont und François Romain, erschienen bei Captain Games, „Mycelia“ von Daniel Greiner, erschienen bei Ravensburger und „Die Gilde der fahrenden Händler“ von Matthew Dunstan und Brett J. Gilbert, erschienen bei Skellig Games und AEG.

Kritikenrundschau: Tribes of the Wind – Umweltaufräumtrupp mit Farbkarten

Wer den Dreck macht, sollte ihn auch wieder aufräumen: Das ist eine Regel, die zu vielen Gelegenheiten einsetzbar ist. In „Tribes of the Wind“ (Joachim Thôme bei Huch und La Boîte de Jeu) sind es die Menschen, die aus den Wolken heraus die unbewohnbar gewordene Erde wieder bewohnbar machen sollen. Unsere Jurymitglieder haben sich in ihren jeweiligen Medien die Flügel umgeschnallt und an die Aufräumarbeiten gemacht.

„Alle Spielenden puzzlen auf ihrem eigenen Tableau vor sich hin“, erklärt Stefan Gohlisch das Spiel. „Im Zentrum befindet sich die zu besiedelnde Landschaft, wozu Karten verwendet werden. Ihre farbige Rückseite lässt Rückschlüsse darauf zu, wozu sie besonders gut sind. Da müssen Landschaftsfelder von Umweltzerstörungschips befreit werden (rote Karten), mit Wäldern bepflanzt (grüne Karten), mit Wasser bezahlt (blaue Karten) und schließlich von den gelben Windreiter-Figuren in Dörfer verwandelt werden (gelbe Karten). Wer das fünfte Dorf baut, leitet das Ende der Partie ein“, so Gohlisch.

„Mechanisch verbirgt sich dahinter ein klassisch verschachteltes Eurogame für Kenner, aber eines mit einem besonderen Kniff. Denn im Kern handelt es sich um einen Punktewettlauf mit dem üblichen Kennerspiel-Brimborium.“ Besonders seien hier die Karten. „Um sie einzusetzen, müssen Bedingungen erfüllt werden, zum Beispiel, dass man mehr grüne Karten besitzt als die Nachbarn.“ Gohlisch findet diesen Mechanismus „originell“, er hebe „Tribes of the Wind“ sogar „aus dem Kennerspiel-Einerlei hervor“, schreibt er. „Aus einer solitären Puzzelei wird eine Aufgabe, bei der man zwar kaum das Tun der Anderen beeinflussen kann, es aber jederzeit im Blick behalten muss.“ Zwar nutze sich das Gefühl des Neuen irgendwann ab. „Aber bis dahin garantiert es spannende Partien.“¹

Auch Udo Bartsch findet den Kartenmechanismus das „Besondere“ an „Tribes of the Wind“. „Das Taktieren mit den eigenen Karten, wann die beste Gelegenheit ist, um sie zu spielen, in welcher Reihenfolge ich sie spiele, welche Farben ich aufbewahre, welche Farben ich nachziehe und so weiter, ist spannend“, schreibt er. „Gleichzeitig bremst dieser Mechanismus aber auch.“ Da in „Tribes of the Wind“ Aktionen nicht gleichzeitig abgehandelt werden, käme es manchmal zu längeren Wartezeiten. „Bei manchen Spieler:innen führt die Tatsache, dass Karten einen optimalen oder auch einen suboptimalen Ertrag haben können, zu einem langen gedanklichen Durchdeklinieren der Möglichkeiten, bis die wirklich beste gefunden ist, in der man nicht mehr das doofe Gefühl hat, leichtfertig auf irgendeinen möglichen Vorteil zu verzichten.“ Unspielbare Karten sammelten sich allerdings nicht an, denn „Tribes of the Wind“ löse das Problem sehr elegant: „Viermal im Spiel darf ich einen Tempel bauen, wozu ich drei meiner fünf Karten austauschen muss beziehungsweise darf. Und weil Tempel Vorteile bringen und sogar Punkte zählen und obendrein Aufträge erfüllen können, ist das mehr als nur ein Notzug.“
Bartsch findet das Spiel „mechanisch rund“. Dennoch packt es ihn nicht komplett. „Auch wenn wir unterschiedliche Tableaus mit dezent unterschiedlichen Ausrichtungen haben, fühlt es sich für mich nach immer demselben Wettrennen mit immer denselben Stellschrauben an. Meine Neugierde auf weitere Partien ebbte bald ab“, schreibt er. „Das Thema ist schwach, dem dargebotenen Endzeitszenario stehe ich emotionslos gegenüber, alles ist eben doch nur rein mechanische Eurokost. Die entscheidende Frage für den Wiederspielreiz ist vermutlich, ob man den Kartenmechanismus so stark findet, dass er den herkömmlichen Rest überstrahlt. Ich finde das nicht.“²

Manuel Fritsch und Stephan Kessler haben sich getroffen, um zu zweit die verwüstete Welt aufzuräumen. Fritsch kritisiert vor allem die Anleitung, die er sich etwas übersichtlicher wünscht. Beispielsweise gäbe es keine Übersicht für die Piktogramme auf den Karten. „Die Kartenaktionen sind voller Icons, da muss man ein bisschen reinkommen“, sagt er. Das sei erst dann intuitiv, „wenn man das einmal verstanden hat“. Dann machte es „relativ schnell ‚Klick‘“. Das Spiel böte schöne taktische Möglichkeiten. „Ich muss immer wieder gucken: Was machen die anderen? Wer nimmt mir jetzt was weg?“ Für Fritsch sei das Spiel „frischer Wind in diesem Genre, weil es mal ein neues Thema ist“. Sein Fazit: „Richtig toll, ich bin total begeistert.“
Kessler teilt diese Begeisterung, denn das Spiel besäße „wirklich Interaktivität“. Man müsse immer auf die anderen achten. Er findet es gut, dass „Tribes of the Wind“ nicht nur auf Kartenglück basiert, sondern immer auch die Option biete, etwas anderes zu machen. Außerdem sei das Spiel nie bestrafend. „Ich wachse an dem Spiel. Ich habe wirklich das Gefühl: Beim nächsten Mal bin ich besser.“ Dadurch ergebe sich ein hoher Wiederspielreiz, trotz einer Einschränkung: „Das Thema wird nicht durch die Mechanik transportiert“. Sein Fazit lautet: „Starker Titel.“³

In einem in der Spielbox abgedruckten Messenger-Gespräch führen die beiden ihre Diskussion noch weiter. Fritsch ergänzt hier: „Magisch finde ich übrigens auch das wunderbare Design des Illustrators Vincent Dutrait, dessen detaillierten und farbenfrohen Grafiken dem eigentlich sehr düsteren Szenario richtig Leben einhauchen.“ Kessler ergänzt: „Die einzelnen Züge sind auch angenehm kurz. Eine Karte ausspielen, Effekt abhandeln, nachziehen, fertig. Hinzu kommen die einzigartigen, freischaltbaren Fähigkeiten jedes Oberhauptes, die zwar stark, aber nicht essenziell sind, um zu gewinnen. Der Clou, dass meine Aktionen von den Rückseiten der Karten meiner Mitspielenden abhängen, finde ich wirklich clever. Ich stehe immer vor dem Dilemma: Warte ich noch, um das beste Ergebnis der Karte zu erhalten, oder nehme ich die schwache Alternative, aber dafür kann ich genau machen, was ich will?“

Michaela Poignée findet, in der Anleitung fehle es „ein bisschen an Genauigkeit“. Aber: „Wir sind sehr gut reingekommen in das Spiel – bis auf die Symbolik, da ist es ein bisschen komplexer.“ Jedenfalls habe das Spiel sowohl zu zweit als auch viert gut funktioniert. „Das Salz in der Suppe ist der Kartenmechanismus“, sagt sie, denn er böte viele Möglichkeit zur Interaktion. „Das ist klasse.“ Manchmal werde einem der Zug zwar verhagelt. Aber es gäbe, auch bei unglücklich verteilten Karten, immer etwas Sinnvolles zu tun. „Ich mag das Spiel total gerne, es hat einen hohen Wiederspielreiz und ist abwechslungsreich“, sagt Poignée.

¹ Neue Presse vom 31.8.23
² Rezensionen für Millionen: Tribes of the Wind
³ Le Brett vom 10.8.2023 (kostenpflichtig)
⁴ Spielbox 5/23: Vom Winde verweht
Die Brettspieltester: Tribes of the Wind