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Christian und Daniela Stöhr: Wenn Glück die Sprache verschlägt

Daniela und Christian Stöhr haben mit ihrem Partyspiel „Pictures“ für eine Überraschung bei der jüngsten Spiel-des-Jahres-Verleihung gesorgt: Sie errangen – trotz Konkurrenz durch die Altmeister Reiner Knizia und Uwe Rosenberg – den „roten Pöppel“, den weltweit bedeutendsten Brettspielpreis. Wie kamen die beiden zu so einem Ausnahmespiel? Fabian Ziehe hat das Erfinderpaar in Endersbach bei Stuttgart besucht.

Daniela und Christian Stöhr mit ihrem Spiel „Pictures“

Bewaldete Höhen, die Hänge behängt mit Wein und Obstbäumen, im Tal schmucke Orte mit wuchernden Gewerbegebieten – es geht die B29 das Remstal hinab. Hier wurde Autopionier Gottlieb Daimler geboren, hier ist die Heimat der Stihl-Motorsäge, hier wuchs Boris Palmer, das Enfant terrible der Grünen, auf. Ein Landstrich bei Stuttgart, wo der Schwabe noch tüfteliger und querköpfiger als ohnehin ist. Ausfahrt Weinstadt-Endersbach, zwei Kreisverkehre, rein ins Wohngebiet: Im Dachgeschoss eines Mehrfamilienhauses wohnt die Familie Stöhr. Er: Christian, 46, Informatiker. Sie: Daniela, 39, Erzieherin. Beide: frisch preisgekrönte Spieleerfinder.
Christian empfängt den Besuch und versorgt den dreijährigen Sohn Julian noch fix mit Beschäftigung. Er entschuldigt seine Frau, Daniela lege gerade noch den sechs Monate alten Sohn Benjamin zum Mittagsschlaf ab. Man setzt sich an den Tisch, der auch Tage zuvor im Live-Stream der Spiel-des-Jahres-Preisverleihung zu sehen war. Dahinter saßen die Stöhrs, gewaltig aufgeregt. Nach der Prämierung ihres Spiels „Pictures“ lagen sie sich in den Armen, was im Stream keiner mitbekam. Anders als die Sprachlosigkeit, als sie das Wort erhielten. Die Stöhrs waren völlig überwältigt – auch von den Medienanfragen im Anschluss.

Spiel mit Hand und Kopf

Dabei liefert „Pictures“, was ein Familienspiel braucht: aufforderndes Material, kreative Aufgaben, muntere Interaktion. Es verlangt Abstraktion und Konkretisierung: Jeder muss ein ihm zugelostes Foto nachbauen – mit Stöcken und Steinen, mit Farbwürfeln, Bauklötzen, Schnürsenkeln oder Symbolkarten. Wird sein Werk dann dem richtigen von 16 möglichen Fotos zugeordnet, erhalten er und der Erratende je einen Punkt. Die Spielanleitung? Passt auf eine Seite.
Klingt nach einem Party-Spiel, das fix designt ist. Doch es dauerte, bis der PD-Verlag das Spiel im Herbst 2019 zur Messe SPIEL in Essen veröffentlichte. Und, nein, es reichte auch nicht, den Schrank der Kinder einmal auf den Kopf zu stellen, um aus den Fundstücken ein Spiel zu dengeln. Alles begann mit dem Vorgänger-Prototyp „Pictures I“, sagt Christian: „Ohne diesen hätte es das eigentliche ‚Pictures‘ nicht gegeben.“ Der Vorläufer hatte schon die Fotos und Symbolkarten, man sollte diese durch kleine Geschichten miteinander verbinden, ein Merkspiel also. Den nächsten Schritt brachte ein Steckspiel von Julian. „Damit kann man ja auch ausliegende Fotos nachbauen“, dachte sich Christian. Schnell folgte die Idee, auch mit Stock und Stein sowie Farbwürfeln das Motiv nachzulegen.

Berge von Fotos (um umgekehrt)

Daniela grübelte weiter. Bauklötze und Schnürsenkel kamen ihr in den Sinn. Plus der Symbolkarten hatten sie einen hübschen Materialmix: vielseitig, fordernd, ungewöhnlich, haptisch reizvoll. Als es dann 2018 beim Autorenwettbewerb des Spielwerks in Hamburg um asymmetrische Spiele ging, packte Christian den Prototyp ein und fuhr hin. Er holte den Titel und weckte die Begeisterung von Claudia Barmbold vom PD-Verlag. Der Verlag tüftelte weiter – bald waren 16 statt nur vier Fotos in der Auslage und alle bauten ihr Foto zeitgleich nach.


Julian erklimmt Papas Schoß. Ein Quartett-Spiel lockt, der Junge ist Eisenbahn-Fan. Die Schnellzüge kennt er alle, beim japanischen Shinkansen weiß er die Spitzengeschwindigkeit. Klar, dass auch ein Zugbild in „Pictures“ zu finden ist. „Der größte Brocken war die Fotoauswahl“, sagt Daniela. Sie ist Hobbyfotografin und durchforstete ihren Fundus. Hinzu kamen Motive von den Redakteuren. Es entstand eine „riesige Excel-Liste“, so Christian. Man pflegte ein, man siebte aus. „Nur Strand und Berge sind als Motiv ja langweilig.“ 182 Fotos sind es in der aktuellen zweiten Auflage, die Hälfte hat Daniela geschossen.
Die Entwicklung lief unter Druck – beim Herner Spielewahnsinn im Mai war man noch am Feinschliff, zur Messe im Oktober musste „Pictures“ produziert sein. „Ich hätte nie gedacht, dass es fertig wird“, sagt Christian. Die Druckerei lieferte einen Tag vor Messestart. „Das Spiel wird untergehen“, fürchtete Christian da noch. Aber die Resonanz war gut, die Besucher griffen zu, die Kritiker waren angetan. Christian war ambivalent zumute. Zwar habe er versucht, „auszublenden, dass es da eine Spiel-des-Jahres-Jury gibt“. Doch: „Es ist mir immer schwerer gefallen, mir keine Hoffnung zu machen.“ Dann die Nominierung, die Freude, das Bibbern, die Preisverleihung, die Überraschung – das alles ist nun schon Brettspielgeschichte.


Doch was interessiert die einen Dreijährigen? Julian zieht es raus auf den Hof, wo ein Kanalsystem für Plastikkähne mit Schleusen und Staumauern lockt. Julian sorgt für den Schiffsverkehr, Papa für den Wasserfluss. Steckt darin eine Brettspielidee? Daniela und Christian haben schon früh an Spielen gebastelt. Christian, der aus dem hessischen Biedenkopf bei Marburg kommt, hat als Jugendlicher Laufspiele entworfen. Und Daniela, aufgewachsen im Remstal, liebte Schatzkarten-Spiele. Als 14-Jährige zwang sie ihre Geschwister zum Testen eines Explorationsspiels. Mit 17 Jahren schickte sie diese Idee bei Ravensburger ein – jedoch erfolglos. „Der eigentliche Spielefreak ist Christian“, sagt sie heute. Derweil er bei Brettspielmeisterschaften mitspielt, malt und musiziert sie auch gerne. Als „Ela May“ hat sie eine CD mit christlichen Texten und Liebesliedern veröffentlicht.

Da kommt noch mehr

Kennengelernt haben sie sich 2012 über ein Online-Partnerschaftsportal für Christen. Er zog zu ihr, seither leben, spielen und tüftelten sie gemeinsam. Mit „Schraube locker“ veröffentlichten sie schon 2014 ein Karten- und Würfelspiel, das aber nicht durchstartete. Daniela sagte damals: „Das nächste Spiel muss mindestens auf die Spiel-des-Jahres-Nominierungsliste.“ Es war als Scherz gemeint.
Zwischenzeitlich brachten sie ein weiteres Spiel bei Amigo unter, das noch auf seine Veröffentlichung wartet. Und über ein komplexeres Spiel sei man mit einem weiteren Verlag im Gespräch. Allerdings sorgen die Kinder dafür, dass kaum Luft zum Spielen, geschweige denn Erfinden bleibt. Aber Ideen sind da – auch zu „Pictures“-Erweiterungen. „Das hat Potential“, sagt Christian, etwa Foto-Themensets, Community-Projekte, neue Bau-Materialien.
Doch nun muss er als Anschieber ran: Julian ist im Kettcar-Fieber. Mutter Daniela schaut zu. „Wir sind froh, dass wir jetzt erst mal Pause haben.“ Übermorgen gehe es zu den Schwiegereltern nach Hessen. Im Urlaub wollten sie wieder tüfteln. Vielleicht sei der Preis ja ein „Türöffner“, so Daniela: „Wir sind hochmotiviert, weiterzumachen.“

Fabian Ziehe

Dieser Artikel erschien zuerst in der „Spiel doch“, Ausgabe Herbst/Winter 2020. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Nostheide-Verlags.