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Spiel des Jahres 1992: Um Reifenbreite von Rob Bontenbal

Spiel des Jahres 1992: Um Reifenbreite von Rob Bontenbal

Jedes Team besteht aus vier Fahrern unterschiedlicher Qualität. Für ihr Vorankommen bestehen mehrere Möglichkeiten. Entweder man vertraut auf das Ergebnis zweier Würfel oder setzt stattdessen ein oder zwei Energiekarten ein, deren Anzahl freilich recht knapp bemessen ist. Noch effektiver ist es, einen Fahrer im Windschatten seines Vordermanns mitziehen zu lassen, wenn dieser einen hohen Wert vorgelegt hat. Deshalb ist es wichtig, die anfangs im Feld verstreuten Teammitglieder zusammenzuführen und einander in der Führungsarbeit ablösen zu lassen.

Besonders hart wird es in den Bergen, wo an den Steigungen so mancher vom Rad muss und dadurch wertvolle Zeit verliert. Da ist es verlockend, sich ein Stück des Wegs vom Begleitfahrzeug schleppen zu lassen. Bei solch unsportlichem Tun per Fotokärtchen erwischte Fahrer werden freilich disqualifiziert. In einem Einzelrennen kostet dies meist schon den Sieg, weil darüber das Gesamtergebnis einer Mannschaft entscheidet. Geht dagegen ein Rennen über mehrere Etappen, gewinnt das Punktergebnis des insgesamt besten Fahrers eines Teams stark an Bedeutung, sodass sich die anderen Fahrer wie in einem echten Radrennen zu bloßen „Wasserträgern“ degradiert sehen.

Zusätzlich aufgeheizt wird die Atmosphäre noch durch Extrapunkte für den jeweiligen Träger des Gelben Trikots und die Gewinner von Zwischensprints. Den letzten Nerv kann es einen gestressten Teamchef kosten, seine Fahrer in einen Massensturz verwickelt zu sehen.

Die Gründe

Bei ihrem Bemühen, mit ihrer Auszeichnung zugleich die Spielelandschaft abzustecken, hat die Jury bewusst die Gelegenheit ergriffen, eine Sportsimulation aufs Siegertreppchen zu stellen. Eine Gattung, deren Vertreter sich im allgemeinen keiner sonderlichen Beliebtheit erfreuen. Anhänger der jeweiligen Sportart pflegen deren Dynamik zu vermissen, die allenfalls noch ein Aktionsspiel einzufangen vermag. Und wer sich für die betreffende Sportart nicht interessiert, fühlt sich dann auch zumeist von einem Brettspiel mit diesem Thema nicht angesprochen. Sechs der neun Juroren haben UM REIFENBREITE jedoch zugetraut, diese Abneigung zu überwinden, weshalb sie es jeweils mit der höchsten Punktzahl bedacht haben.

Die erstaunlich realitätsnahen Komponenten garantieren einen von taktischen Manövern geprägten, äußerst abwechslungsreichen Spielverlauf und damit Spannung bis zum Schluss. Dank einer sorgfältigen redaktionellen Bearbeitung fällt es nicht schwer, sich das vergleichsweise komplexe Regelwerk zu erschließen. Die 16-seitige, großformatige Anleitung führt von den Grundregeln über deren Erweiterungen für Fortgeschrittene bis hin zu den Profiregeln schrittweise anhand zahlreicher Grafiken in die Abläufe ein, sodass sich auch Gelegenheitsspieler nicht überfordert zu fühlen brauchen. Abgerundet wird das immer wieder schöne Spielerlebnis durch eine witzige, teilweise sogar skurrile Graphik.

Der Autor

Der Niederländer Rob Bontenbal, Jahrgang 1945, war Reinkarnationstherapeut. Seinen mehr als ungewöhnlichen Beruf übte er noch lange Zeit in Amsterdam aus. Am 23. Oktober 2015 verstarb er leider.

Während seines Studiums an der Universität steckte er ein ganzes Jahr intensiver Arbeit in die Entwicklung eines Radrennspiels, das er 1974 dem ebenfalls in Amsterdam ansässigen Verlag Hausemann en Hötte zunächst erfolglos anbot. Unter dem Titel HOMAS TOUR konnte er es stattdessen bei einem Hersteller von Billardspielen unterbringen, der allerdings kurze Zeit später seinen Betrieb infolge eines Brandes aufgeben musste. 16 Jahre sollte es dauern, bis sich Hausemann en Hötte überraschend wieder bei Rob Bontenbal meldete, um sein Spiel nunmehr doch noch ins Programm aufzunehmen, womit diesem eine Art Reinkarnation vergönnt gewesen war.

Preisverleihung 1992 (v.l.n.r.): Reiner Schäfer (Geschäftsführer Jumbo), Rob Bontenbal und (vermutlich) Radsport-Profi Udo Bölts. Bildquelle: Deutsches Spielearchiv Nürnberg

Der Verlag

Die Jumbo Spiele GmbH war ursprünglich eine Tochtergesellschaft der 1853 von zwei deutschen Auswanderern gegründeten Hausemann en Hötte NV. Als diese in den 1930er Jahren hochwertiges Holzspielzeug ins Sortiment nahm, das so stabil gewesen sein soll, dass ein Elefant darauf hätte stehen können, kam die Geburtsstunde der Marke mit dem roten Elefanten und dem Namen Jumbo, der allgemein als Synonym für Elefant und Größe steht. Derzeit hat die Jumbo Spiele GmbH ihren Sitz in Haan bei Wuppertal. Bekannt ist sie vor allem für den Neuzeit-Klassiker STRATEGO. Mitte der 1980er Jahre konnte man sich den Vertrieb von RUMMIKUB, dem Preisträger des Jahres 1980, sichern. 2007 erfolgte die Übernahme durch M&R De Monchy, eine Rotterdamer Unternehmensgruppe, die inzwischen seit fast 50 Jahren auch in der Spielwarenbranche aktiv ist.

Der Spielejahrgang

Wie im Vorjahr hatte die Jury wieder neun weitere Spiele benannt, deren Unterhaltungswert sich deutlich aus der Masse der Neuerscheinungen heraushob. Zusammen mit dem späteren Hauptpreisträger waren diese Spiele vorab auf einer Nominierungsliste in alphabetischer Reihenfolge bekannt gegeben worden.

Um DIE VERBOTENE STADT von Alex Randolph und Johann Rüttinger (Ravensburger) verlassen zu können, muß man farblich zusammengehörige Gewänder des Kaisers herbeischaffen. Als Helfer bieten sich 25 Hofschranzen an, die auf dem großen Platz in der Spielplanmitte versammelt sind und von denen jeder Teilnehmer jeweils einen anhand der Farben seines Hutes und seines Gewands geheim auswählt. Die Schranzen ziehen durch die labyrinthartigen Gassen stets so weit geradeaus, bis sie auf ein Hindernis treffen, wo sie rechtwinklig abbiegen dürfen – falls sie nicht in einer Sackgasse gelandet sind.

Sein Talent als Wetterfrosch kann man mit Peter Lewes DONNERWETTER (Haba) unter Beweis stellen. 32 Wetterkarten mit Symbolen für gutes oder schlechtes Wetter werden gemischt und verdeckt ausgelegt. Der Spieler am Zug deckt eine beliebige Karte auf und darf sodann durch Austausch von Karten die Wetterlage beeinflussen. Sobald alle vier Karten über einem der 20 das Spielfeld einrahmenden Häuser aufgedeckt sind, findet dort eine Wertung statt. Eine richtige Vorhersage erlaubt es, auf der Leiter ein paar Sprossen höher zu hüpfen, und zwar umso mehr, desto früher man sich festgelegt hat. Bei Fehlprognosen geht’s dagegen abwärts.

Auch wenn die Produktion des 2CV schon lange eingestellt ist, ihre Liebhaber hat die gute alte „Ente” noch immer. Bei einer zünftigen ENTENRALLYE (Walter Müller’s Spielewerkstatt), vom Werkstattinhaber selbst als Würfelkeilerei inszeniert, ist Zeitnot programmiert. Einerseits will man pünktlich zum nächsten Treffen erscheinen, um überhaupt Punkte kassieren zu können. Anderseits muß man immer wieder anhalten, um sein Gefährt etwas zu verzieren und Mängel zu beseitigen. Wer bei TÜV oder ASU durchfällt, muß Umwege in Kauf nehmen und notfalls sogar ein Treffen auslassen, um wieder Anschluß ans Feld zu finden.

In GOLD CONNECTION von Sid Sackson (Schmidt Spiele) bemühen sich 2 bis 4 Tresorknacker, aus den Safes einer Bank komplette Serien von Goldbarren einzusammeln. Eine Kombination aus Räuberstein und Richtungspfeil gibt vor, aus welchen Safes oder bei welchem Konkurrenten man mit welchem Risiko welche Barren stibitzen kann. Wer die Summe aus Schritten und Wert der Barren mit der Augenzahl zweier Würfel erreicht, darf munter weitermachen und sein Glück gleich noch in einem der folgenden Safes versuchen. Mißlingt der Wurf dagegen, geht die gesamte Beute dieses Zugs verloren.

Ins mafiose PALERMO (Piatnik) lockt Walter Ziser. Beim Aufbau einer Trabantenstadt versucht jeder Mafiaboss, seine Lokale möglichst gut erreichbar zu platzieren. Kurze Wege und schnelle Verbindungen sind deshalb wichtig, weil in der zweiten Phase alles ausschwärmt, um Einnahmen zu kassieren. Deren Höhe hängt von der Zahl unverbrauchter Bewegungspunkte bei Erreichen eines Lokals ab. Während ein Ganove anfangs nur drei Felder weit kommt, erhöht sich seine Zugweite für jedes besuchte Lokal um ein weiteres Feld, sodass er im Laufe der Partie immer schneller vorankommt und entsprechend höhere Einnahmen erzielen kann.

In seinem taktischen Verhandlungsspiel QUO VADIS? (Hans im Glück) stellt Reiner Knizia die Teilnehmer als Oberhäupter römischer Patrizierfamilien vor die Aufgabe, ihre Familienmitglieder in Amt und Würden bringen. Wer mit seinen Senatoren von einem Gremium ins nächste gelangen und dabei Ansehen sammeln möchte, benötigt stets die Zustimmung der Mehrheit der dort Anwesenden. Gehören nicht genug zur eigenen Familie, ist diplomatisches Geschick gefragt, um mit einem anderen Familienoberhaupt eine Lösung auszuhandeln. Eingehalten zu werden brauchen allerdings nur solche Abmachungen, die noch im laufenden Zug abgewickelt werden können…

Bis zu acht Zocker bekommen von Stefan H. Dorra in RAZZIA (Ravensburger) die Chance, in sechs Bars abzukassieren. Zu Beginn jeder Runde verteilt der Croupier dort verschieden hohe Einsätze. Dann spielt jeder verdeckt eine passende Karte für die Bar seiner Wahl aus. Wer sich nach dem Aufdecken als Zocker allein in einer Bar befindet, darf den Gewinn sofort einstreichen. Treffen dagegen mehrere Zocker aufeinander, müssen sie sich über dessen Aufteilung einigen oder notfalls ein Duell aus Kartenwert und Würfelaugen austragen. Hat sich allerdings auch ein Cop eingefunden, wandert das Geld in dessen Tasche.

Urs Hostettler kann für sich in Anspruch nehmen, mit SCHRAUMELN (F.X. Schmid) „das ultimative Nonsensspiel um Schriftrollen und Pflaumen” vorgelegt zu haben. Die Teilnehmer sehen sich in die Rolle sog. Schraumen versetzt, die es gern zum Oberschraum bringen wollen. Dafür ist normalerweise Voraussetzung, bei Spielende, das oft völlig überraschend eintritt, die meisten Pflaumen zu besitzen – es sei denn, man verfügt über eine Schriftrolle, die genau das Gegenteil verlangt. Schriftrollen werden reihum blind versteigert und enthalten zahlreiche Anweisungen, die, geschickt kombiniert, überraschende Vorteile bringen können.

Im Ratespiel TABU von Brian Hersch (MB) wird die beliebig große Runde in zwei Teams aufgeteilt, die abwechselnd Begriffe raten müssen. Ein Teammitglied fungiert jeweils als Tippgeber. Sein Handikap besteht darin, daß zu jedem Suchwort fünf Tabuwörter aufgeführt sind, deren Verwendung sich sonst eigentlich aufdrängte, nun aber streng verboten ist. Über die Einhaltung der Regeln, die auch Mimik und Gesten verbieten, wacht das gegnerische Team. Verstöße werden unerbittlich mit Punktabzug geahndet. Für Tempo sorgt eine Sanduhr, sodass der Tippgeber und seine Mitstreiter Hinweise und Lösungsvorschläge nur so hervorsprudeln.

Sonderpreis

Der Sonderpreis Kinderspiel ging an SCHWEINSGALOPP (Ravensburger). Heinz Meister, sein Autor, hat mit einfachsten Regeln ein spannendes Rennen programmiert, an dem bereits Sechsjährige teilnehmen können, das seinen Witz aber auch in reiner Erwachsenenrunde zu entfalten vermag. Fünf verschiedenfarbige Schweinderl werden in beliebiger Reihenfolge auf einen Rundkurs geschickt. Wer am Zug ist, darf eine Karte ausspielen und das Schwein der entsprechenden Farbe aufs nächste freie Feld vorrücken. Ist dies die Spitze, gibt es zur Belohnung einen Futterchip. Die im Laufe eines Rennens gesammelten Chips darf indessen nur behalten, wem es gelingt, mit seiner letzten Karte noch einmal ein Schwein in Führung zu bringen oder diese sogar auszubauen.

Von der Verleihung des Sonderpreises Schönes Spiel sah die Jury in diesem Jahr ab. Einerseits hatten die Hersteller hierzulande inzwischen allgemein ein Niveau in Aufmachung und Ausstattung ihrer Spiele erreicht, das international Maßstäbe setzte. Anderseits ließ sich jedoch kein Titel ausmachen, der es verdient hätte, vor anderen genannt zu werden.

Die weitere Entwicklung

Trotz all seiner Qualitäten ist es UM REIFENBREITE leider nicht gelungen, die oben angesprochenen Vorbehalte gegen Sportsimulationen nachhaltig zu erschüttern und sich dauerhaft zu etablieren. Daran hat auch die Abhaltung zweier Deutscher Meisterschaften nichts zu ändern vermocht. Aus Anlass des 10. Jubiläums hat der Verlag noch eine Neuausgabe mit leicht geänderten Regeln herausgebracht, die inzwischen aber auch schon lange nicht mehr im Programm ist.

Jochen Corts (April 2017)