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Spieleautoren-Stipendium 2019/20: Praktikumsbericht von Michael Modler

Spieleautoren-Stipendium 2019/20: Praktikumsbericht von Michael Modler

Ravensburger

In zehn Stunden kann man von Frankfurt nach Vancouver fliegen. Oder mit chronisch verspäteten Zügen von Bremen nach Ravensburg fahren. Ich muss gestehen, dass ich mir nach dem zweiten verpassten Anschluss kurz die Frage stellte, ob es das wert ist? Eine Odyssee mit der Bahn quer durch Deutschland für fünf Tage Praktikum bei Ravensburger? Nach dem dritten verpassten Anschluss meinte ich die Antwort zu kennen. Doch ich sollte mich irren.

Michael Modler (im gelben Hoodie) im Kreis der Ravensburger-Redaktion

Mein Praktikum in der Spieleredaktion von Ravensburger war Gold wert und die Mühen der Anreise bereits nach dem ersten Tag vergessen. Ich erhielt tiefe Einblicke in die Arbeitsweise und Strukturen eines Spieleverlags und konnte viel für meine Tätigkeit als Spieleautor mitnehmen. Dies alles geschah in einer herzlichen, fast schon familiären Atmosphäre. Besonders positiv empfand ich es, dass ich nach einem Rundgang durch die Redaktion und einer Einweisung in die Basics des täglichen Geschäfts sehr schnell in die redaktionelle Arbeit eingebunden wurde. So fühlte ich mich nicht wie ein Außerirdischer auf Erdbesuch, den man freundlich herumführt, wohl wissend, dass er kostbare Arbeitszeit frisst, sondern wie ein Teammitglied auf Zeit.
Mein persönliches Highlight war der Spieletesttag, an dem ein knappes Dutzend Prototypen getestet wurde. Einige der zu testenden Spiele hatte ich vorbereitet, das heißt, ich hatte im Vorfeld die Spielregel gelesen und mich mit dem Spiel vertraut gemacht. Dies war eine sehr interessante Erfahrung, weil es mich in die Position eines Redakteurs versetzte, der ein Spiel anhand von einem nicht immer auf Anhieb verständlichen Text bewerten muss.
Beim Vorstellen dieser Spiele am Testtag hatte ich mir also durch das Studium der Spielregel schon ein erstes Bild gemacht und in meinem Kopf eine Hitliste zurechtgelegt. Ich war zuversichtlich, dass zumindest zwei bis drei Prototypen das Redaktionsteam überzeugen und es in die nächste Runde schaffen würden. Dem war leider nicht so. Schon bald musste ich erkennen, wie wenig eine gut klingende Spielregel mit einem guten Spiel gemein haben muss. Fast alle Spiele funktionierten. Doch fast allen fehlte dieses gewisse Etwas, mit dem man selbst erfahrene Redakteure in Extase versetzen kann. Auch ein von mir entwickeltes Spiel fiel durch.
Dieser Tag war für mich ein Lehrstück in Sachen Spieleentwicklung. Zunächst schüchterte er mich ein, weil er mir doch gezeigt hatte, wie weit der Weg von der Einsendung eines Prototyps zum Verlagsvertrag noch ist. Das Meiste wird mit ein paar freundlichen Zeilen zurückgeschickt. Vor dieser Tatsache kann und sollte man als Spieleautor nicht die Augen verschließen. Je mehr Zeit jedoch verging, desto mehr Motivation zog ich aus dem Erlebnis. Denn der Tag hatte mich zwei wichtige Dinge gelehrt:

  1. Dass ich meinem Urteil als Redakteur trauen kann. Keines der abgelehnten Spiele hätte ich in die nächste Runde durchgewunken. Auch nicht mein eigenes, das mir an diesem Tag seltsam unrund vorkam.
  2. Dass gut nicht gut genug ist. Man sollte sich bei der Entwicklung eines Spiels niemals entspannt zurücklehnen und jeder guten Idee die Chance geben, besser zu werden. Das Besondere ist ein scheues Wesen, das gefunden werden möchte.

Mit diesen und vielen anderen wertvollen Erkenntnissen trat ich schließlich die Heimreise an. Mein Kopf war so voller schöner Eindrücke und Begegnungen, dass mir fast entgangen wäre, dass mich die Bahn pünktlich ans Ziel brachte. Fast.

Spieleburg

Verglichen mit meiner Reise nach Ravensburg war mein zweites Praktikum in der Spieleburg in Göttingen ein Heimspiel. 350 Kilometer entfernt, was einer Zugfahrt von drei Stunden entspricht. Ein Katzensprung, wäre da nicht ein gewisser Sturm Mortimer gewesen, der in Norddeutschland tobte und den Bahnverkehr zeitweise lahm legte. Umso glücklicher war ich, als ich schließlich in der Spieleburg stand, umgeben von hunderten Spielen und einer Handvoll freundlicher Menschen, die diese lieben.
Ich hatte mich im Vorfeld meines Praktikums oft gefragt, wie ein Spieleladen in der heutigen Zeit überleben kann. Die folgenden Tage sollte mir auf diese und viele andere Fragen Antworten liefern.

Zunächst einmal wirkte die Spieleburg jedoch von außen auf mich wie eines dieser Geschäfte, die in der modernen Konsumgesellschaft keine Zukunft zu haben scheinen. Innenstadtlage, keine Parkplätze. Wer will hier Spiele kaufen und heimtragen, fragte ich mich beim Betreten. Spielenerds, klar, aber die allein reichen nicht, um ein Geschäft in der Innenstadt langfristig profitabel zu betreiben. Dies hat Arne, der Inhaber der Spieleburg, schon vor Jahren erkannt und offensichtlich auch die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Ein Spielefachgeschäft muss dem Kunden etwas bieten, dass es online in dieser Form nicht gibt. Exzellente Beratung.

… und einen faszinierenden Blick auf das Gesamt-Sortiment

Diese bekommen die Kunden von morgens bis abends geboten. Die Belegschaft ist positiv spieleverrückt und kennt fast jedes Spiel. Vor allem aber vermag sie sich gut auf die unterschiedlichen Kunden und deren individuelle Bedürfnisse einzustellen. Mit einem Nerd fachsimpeln sie über die Vorzüge eines Pre-Release-Angebots und warum Spiel XY nach 20 Stunden Spieldauer erst so richtig zur Hochform aufläuft, wohingegen der Wenig- und Nichtspieler liebevoll an die Hand genommen und zu den für ihn richtigen Spielen geführt wird. Dem Kunden wird nicht der aktuelle Renner oder irgendein Sonderangebot aufgeschwatzt, sondern eine Auswahl an für ihn passenden Spielen angeboten. Diese Auswahl zu erstellen ist oft wie das Häuten einer Zwiebel. Mühsam. Zeitaufwändig. Aber sie ist eben auch die geniale Serviceleistung, für die es kein Algorithmus gibt und die aus Kunden Stammkunden macht.

Ich habe während meines Praktikums in der Spieleburg viel über Spiele gelernt, vor allem über ihre letzte Etappe auf der langen und spannenden Reise von Autor zu Endkunde. Bei der Bearbeitung von beinahe täglich eintreffenden Lieferungen wurde mir ganz plastisch vor Augen geführt, wie hart umkämpft der Markt ist. Im Einzelhandel sind es plötzlich die Verlage, die um die wenigen freien Plätze kämpfen. Vorne im Regal, hinten im Regal, gar nicht im Regal. Auch hier gilt: gut ist nicht gut genug. Ein Spiel, das nicht nach einer Saison in Vergessenheit geraten möchte, muss das gewisse Etwas haben.
Meine Mission bleibt, dieses zu finden. Auf der Fahrt nach Hause war ich überzeugter denn je, dass mir dies eines Tages gelingen wird. Vielleicht mit einem Spiel das Mortimer heißt. Wer weiß das schon.

Deutsches Spielearchiv

Meine dritte Praktikumsreise führte mich nach Nürnberg. Zunächst besuchte ich für einige Tage die Nürnberger Spielwarenmesse und ließ mich von der Vielfalt der Angebote und der Internationalität der Aussteller und Besucher in den Bann ziehen. Eine Messe dieser Größe hat ihren ganz eigenen Zauber, vor allem für einen Neuling wie mich. Im einen Augenblick irrt man durch die schier unendliche Welt der Spielwaren, im nächsten trifft man bekannte Gesichter. Mal ist die Spielewelt riesig und Ehrfurcht einflößend, mal winzig und heimelig vertraut.

Nach der Messe folgte mein Praktikum im Deutschen Spielearchiv. Wie bei meinen bisherigen Praktikumsstationen wurde ich auch hier herzlich empfangen und fühlte mich von Beginn an wohl.
Das Spielearchiv versteht sich als Forschungs- und Dokumentationsstelle und beherbergt eine einzigartige Sammlung von über 30.000 Gesellschaftsspielen von 1945 bis zur Gegenwart. Es fördert das Spiel in Familie und Gesellschaft mit zahlreichen Veranstaltungen und setzt sich aktiv für das Kulturgut Spiel und das Spielen selbst ein.
Das Spielearchiv befindet sich aktuell im Wandel — böse Zungen würden sagen, es ist eine Baustelle. Die Umgestaltung des Pellerhauses zum Haus des Spiels ist in vollem Gange und das Spielearchiv ist aktiver Teil dieser Transformation. Immer wieder muss das Team improvisieren und sich neuen Herausforderungen stellen. Einen Praktikanten zu betreuen ist unter solchen Umständen eine zusätzliche Bürde. Umso dankbarer bin ich den Mitarbeitenden, dass ich eine Woche im „Gedächtnis der Spielbranche” zu Gast sein und viel über die Arbeit dort lernen durfte.

„Escape“ von Alex Randolph

Mein persönliches Highlight war die intensive Auseinandersetzung mit dem Nachlass von Alex Randolph, dem Autor von Spielen wie Twixt, Sagaland, Inkognito und Tempo, kleine Schnecke. Die Prototypen von Alex Randolph sind liebevoll gestaltet und erlauben einen vielschichtigen Blick auf sein Arbeiten als Spieleautor. Man spürt die Akribie und positive Besessenheit, die Alex Randolph bis ins hohe Alter antrieben. In manchen Momenten ist es, als führe man ein Vieraugengespräch mit ihm. Faszinierend.

Neben dieser aufregenden Reise in die Vergangenheit möchte ich noch das
Projekt EMPAMOS hervorheben. EMPAMOS ist ein Forschungsprojekt der Technischen Hochschule Nürnberg, das in Kooperation mit dem Deutschen Spielearchiv durchgeführt wird. Ziel des Projekts ist es, Brett- und Gesellschaftsspiele mit qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden zu analysieren, um die motivierenden Spielelemente zu entdecken, die Spieleerfinder in immer neuen Variationen in ihren Spielen kombinieren. Aus Sicht eines Spieleautors ein hochspannendes Projekt, das ich mit großem Interesse weiterverfolgen werde.
Meine Reise nach Nürnberg war ein voller Erfolg und die Kombination aus wuseliger Messe und ruhiger Archivarbeit perfekt. Sogar die Zugfahrten verliefen ohne nennenswerte Zwischenfälle. Manchmal läuft es einfach.

Spieleautor Jens-Peter Schliemann

Meine vierte und letzte Reise sollte mich zu Spieleautor Jens-Peter Schliemann führen. Auf diese Woche hatte ich mich schon lange im Vorfeld gefreut, was unter anderem daran lag, dass ich meinen sympathischen Gastgeber bereits am Rande der Messen in Essen und Nürnberg hatte kennenlernen dürfen. In meiner Vorstellung war der Besuch bei Jens-Peter der perfekte Abschluss meiner Stipendiumstour durch die Spielebranche. Ich freute mich auf lange Gespräche, einen intensiven Erfahrungsaustausch und das gemeinsame Versinken in dem, was wir beide von Herzen lieben. Spiele.
Der Termin war fixiert, das Zugticket gebucht. Doch dann kam Corona und stellte nicht nur die Spielewelt gehörig auf den Kopf. Ich musste meine Reise auf unbestimmte Zeit verschieben.
Aber wie heißt es so schön: aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Und der Vorfreude eilt bekanntlich auch ein guter Ruf voraus. Ich beende mein Jahr als Stipendiant daher mit dem schönen Gefühl, dass meine Reise in die zauberhafte Welt der Spiele in die Verlängerung geht.
Vielleicht wird sie auch nie enden. Wer sich einmal in der Spielewelt verliert, kommt nicht mehr zurück. Auch dies habe ich in den vergangenen Monaten gelernt. In diesem Sinne wünsche ich uns allen das passende Schuhwerk und eine unvergessliche Zeit.

Bon Voyage